Hamburg. Jürgen Lohr hat sowohl für den HSV als auch den BVB gearbeitet. Im Abendblatt spricht er über Krisenbewältigung und Gisdols Aufgabe.
Wenn der HSV am Sonnabend (15.30 Uhr) im Volksparkstadion Borussia Dortmund empfängt, schaut einer ganz genau hin: Sportpsychologe Jürgen Lohr. Der Hamburger hat für beide Clubs gearbeitet, betreut noch heute zwei BVB-Spieler. Ein Gespräch über Vorurteile, Hamburgs neuen Mentaltrainer Christian Spreckels und den Faktor Dortmund.
Herr Lohr, als der HSV in der vergangenen Woche bekannt gab, dass der Sportpsychologe Christian Spreckels das Trainerteam verstärkt, war die reflexartige Reaktion bei vielen: Jetzt ist der HSV also endgültig reif für die Couch. Was war Ihre erste Reaktion?
Jürgen Lohr: Das Gegenteil. Selbstverständlich ist es richtig und wichtig, dass ein professioneller Fußballclub auf sportpsychologische Unterstützung setzt. Und für mich war es eigentlich auch keine große Überraschung, dass der HSV sich in diesem Bereich erneut verstärkt. Mit Bernhard Peters und Markus Gisdol sind ja gleich zwei frühere Hoffenheimer beim HSV in Amt und Würden. Und in Hoffenheim hatte man schon sehr viel früher als anderswo den praktischen Nutzen der Sportpsychologie verstanden. Vor zehn Jahren, als ich beim HSV anfing, war ich einer der ersten Mentaltrainer in der Bundesliga. Aber erst mit den damaligen Hoffenheimern Hans-Dieter Hermann und Jan Mayer etablierte sich dieser Bereich.
Sie waren sowohl beim HSV als auch beim kommenden Gegner Dortmund unter Vertrag. Haben Sie das Gefühl, dass die Sportpsychologie in den vergangenen zehn Jahren an Akzeptanz gewonnen hat?
Bedingt. Viele Clubs arbeiten mit Sportpsychologen zusammen, aber bei den wenigsten Clubs haben die Mentaltrainer tatsächlich Einfluss. Meistens arbeiten sie eher im Hintergrund, bei der zweiten Mannschaft oder im Nachwuchsbereich. Ich kenne nur wenige Clubs, wo ein Sportpsychologe ein fester Bestandteil des Teams rund um das Bundesligateam ist. Das ist schade.
Hat die Bundesliga auf diesem Gebiet Nachholbedarf?
Unbedingt. Jede Mannschaft hat doch mittlerweile auch einen eigenen Athletiktrainer, der sich um jeden einzelnen Spieler, aber auch um die ganze Gruppe kümmert. Der weiß genau, bei welchen Spielern er ein bisschen mehr und bei welchen Spielern er ein bisschen weniger machen muss. Der Nutzen eines Athletiktrainers wird von niemandem hinterfragt, der Nutzen eines Mentaltrainers ist noch immer fragwürdig. Dabei ist aus meiner Sicht beides gleichbedeutend wichtig. Im Fall der Sportpsychologie hat der Fußball Nachholbedarf.
Woran machen Sie das fest?
Eigentlich ist das ein gesellschaftliches Thema. In Deutschland hat noch immer jeder ein Problem, der zum Psychologen geht. In den USA hat man dagegen erst ein Problem, wenn man nicht zum Psychologen geht. Ein Sportpsychologe ist per definitionem ein Leistungsoptimierer. Es geht um Motivation, Krisenbewältigung, Teambuilding, mentales Training bei Verletzungen und auch darum, die mentale Stärke zu verbessern.
Entschuldigen Sie die banale Frage, aber wie macht man das?
Das hängt natürlich vom Einzelfall ab. Wenn zum Beispiel ein Stürmer zu mir kommt, der das Tor nicht mehr trifft, dann geht es darum zu erkennen, was bei ihm mental passiert in so einer Situation. Ich will rausbekommen, wie er attribuiert. Möglicherweise sagt er: „Ich war mir sicher, dass ich den Ball bei meiner letzten Großchance reinmache, aber dann ist mir der Ball versprungen.“ In diesem Fall wäre der Stürmer eher ein Fall für den Techniktrainer als für mich. Wenn er aber sagt, dass er schon vor der Ballannahme Bammel hatte zu verschießen, dann können wir zusammen daran arbeiten. Menschen folgen nicht dem, was sie wollen, sondern ihrer inneren Vorstellung.
Kann man den Bedarf an psychologischer Unterstützung vom Tabellenplatz abhängig machen? Braucht der HSV also besonders viel mentales Training?
Es geht auch um Einstellung. Als die Nationalmannschaft bei der WM 2014 mit einem 4:0-Sieg gegen Portugal gestartet ist, war es wichtig, dass die Spieler erkannt haben, dass der Umgang mit dieser überragenden Leistung genauso anspruchsvoll ist wie der Umgang mit einer katastrophalen Niederlage. Diese Einstellung hat ihnen geholfen, auch das folgende Spiel zu gewinnen.
Hat der HSV die richtige Einstellung?
Das kann ich aus der Ferne nur begrenzt bewerten. Als Zuschauer habe ich das Gefühl, dass die Spieler mehr Mut benötigen. Sie spielen sicherheitsorientiert, vielleicht weil sie nicht angreifbar sein wollen. Genau daran kann man arbeiten. Man sollte die Spieler eher auf das aufmerksam machen, was sie können, als umgekehrt. Das ist schwierig, weil das gesamte HSV-Umfeld sehr fehlerorientiert ist. Hier hört und liest man den ganzen Tag, was hier alles schlecht läuft.
Hier läuft aber auch sehr viel schlecht …
Keine Frage, aber als Trainer muss man dem entgegenwirken. In der Fachliteratur heißt das so schön: die Selbstwirksamkeitsüberzeugung stärken. Man muss den Jungs die Mittel an die Hand geben, dass sie am Ende die Überzeugung haben, dass sie es eben doch können. Wir lesen ständig von Spielern, die den HSV verlassen und dann richtig erfolgreich werden. Umfeld und Umwelt sind der stärkste Einflussfaktor auf die Leistung. Ein wichtiger Schritt wäre auch, die Einstellung des Umfeldes zur Mannschaft so zu entwickeln, dass es nützlich ist für deren Leistung. Das zu können ist die Kunst.
Kann es psychologisch eine Rolle spielen, dass der HSV gegen Dortmund irgendwie immer gut gespielt hat?
Man kann das mit einfließen lassen, sollte seine gesamte Strategie und sein mentales Drehbuch aber nicht darauf ausrichten. Die Spieler können mental superstark sein; wenn dann beispielsweise Taktik und Fitness nicht stimmen, dann nützt das auch nichts.