Gisdol gilt als der letzte Hoffnungsträger des HSV – nicht nur in Hamburg, sondern auch in Bad Überkingen und Geislingen an der Steige.

Die Begrüßung ist herzlich. „Bad Überkingen grüßt seine Gäste“, steht auf einem Schild am Ortseingang der 3800-Einwohner-Gemeinde. Zwei Hauptstraßen, drei Bushaltestellen, zwei Zigarettenautomaten – die kleine Ortschaft 50 Kilometer südöstlich von Stuttgart ist überschaubar. Die Straßen sind sauber, die Hecken gestutzt. Es gibt die Feinbäckerei Bek seit 1889 und die Bäckerei Siehler, wo ein süßes Stückle 60 Cent kostet. Das Restaurant Altes Pfarrhaus, die Pizzeria Quo Vadis und die Martinsklause. Wirkliche Attraktionen hat Bad Überkingen aber eigentlich nur zwei zu bieten: Das Thermalbad mit frischem Quellwasser aus dem Sauerbrunnen – und HSV-Trainer Markus Gisdol.

Vor ziemlich genau einem Monat hat Markus Gisdol Vorgänger Bruno Labbadia beim HSV abgelöst – als Trainer, aber auch als letzter Hoffnungsträger im Dauerkampf gegen den Abstieg, das Chaos und die offenbar nie zu Ende gehende HSV-Krise. „Ich habe große Lust, diese große Herausforderung anzunehmen“, hatte der 47 Jahre alte „Optimist aus Überzeugung“ (Gisdol über Gisdol) gesagt, als er am 26. September als neuer HSV-Trainer vorgestellt wurde – und noch nicht ahnen konnte, wie groß seine Aufgabe tatsächlich werden würde.

HSV steht am Abgrund

Vier Wochen später heißt die Bundesligabilanz: Kein Sieg, kein Tor seit sechs Spielen und Tabellenschlusslicht. Doch wenige Tage vor dem Spiel am Sonntag beim 1. FC Köln (17.30 Uhr/Sky) denkt der überzeugte Baden-Württemberger gar nicht daran zu zweifeln: „Ich kenne keine Probleme, nur Herausforderungen.“ Schaffle, schaffle, Häusle baue. Wer Gisdol verstehen will, der muss Gisdols Heimat verstehen lernen.

Blondschopf Markus Gisdol (r.) mit seinen Fußballfreunden Karsten Maurer (M.) und Lutz Siebrecht
Blondschopf Markus Gisdol (r.) mit seinen Fußballfreunden Karsten Maurer (M.) und Lutz Siebrecht © Privat

„Der Markus ist ein echter Heimatmensch. Er braucht diese beschauliche und heile Provinzwelt als Ausgleich von der Glitzerwelt des Profifußballs“, sagt Lutz Siebrecht. Der Nachbar und beste Freund Gisdols weiß, wovon er spricht. Siebrecht ist in der heilen Welt Baden-Württembergs mit Gisdol aufgewachsen, hat auf dem selben Bolzplatz und im selben Fußballverein gespielt. Auch heute noch wohnt er nur ein paar Straßen von der Familie Gisdol entfernt, ihre Töchter gehen auf dasselbe Gymnasium. Als Sportdirektor vom SSV Ulm kennt er aber auch die andere Welt, „die Blase Profifußball, die irgendwann platzt, wenn man vergisst, wo man herkommt und wo man zu Hause ist.“

Blamage für den HSV in Gisdols Heimat

Es ist 12.30 Uhr, Mittagszeit. Siebrecht hat als Treffpunkt das Hotel Krone in Geislingen, gerade mal sieben Autominuten von Bad Überkingen, vorgeschlagen. „Hier hat der HSV auch schon unter Ernst Happel vor dem großen Spiel übernachtet“, sagt Siebrecht. Mit „das große Spiel“ ist die Pokalpartie vor 32 Jahren gemeint, als der kleine SC Geislingen den großen HSV mit all den Europapokalhelden von 1983 mit 2:0 bezwang. „Das Spiel bleibt in Geislingen für immer unvergessen“, sagt Siebrecht, der damals als Kind dabei war. „Ich stand mit meinem Vater neben dem Tor, Markus saß oben auf der Tribüne.“

Markus Gisdol (l.) bei einem E-Jugendturnier mit Teamhund und Siegerpokal
Markus Gisdol (l.) bei einem E-Jugendturnier mit Teamhund und Siegerpokal © Privat

Es darf wohl als ein Treppenwitz der Fußballgeschichte bezeichnet werden, dass ausgerechnet ein gebürtiger Geislinger nun den HSV retten soll.

Siebrecht bestellt eine Apfelschorle und ein Kalbsschnitzel. „Bitte ohne Kartoffeln, bloß keine Kohlenhydrate“, sagt der 49-Jährige, und fängt an zu erzählen. „Der Markus“, sagt Siebrecht, „ist ein echter Schwabe: fleißig und extrem ehrgeizig.“ In den 70ern hätten sie sich kennengelernt. Zunächst auf dem kleinen Betonplatz neben der Bolzstraße, wo es noch heute wie vor 40 Jahren aussieht. An einigen Stellen bahnt sich das Unkraut seinen Weg aus dem aufgeplatzten Asphalt heraus, im Maschendrahtzahn hinter dem Tor ist ein großes Loch. „Meine Oma hat im selben Häuserblock wie der Markus gewohnt“, sagt Siebrecht. In der Bebelstraße 28, zwei Straßen von der Bolzstraße entfernt. „Zweimal rechts abbiegen“, sagt Siebrecht. „Wir sind jeden Tag kicken gegangen. Von morgens bis abends.“

„Eine Rasselbande auf Titelkurs“

Doch irgendwann reichte das Asphaltviereck an der Bolzstraße nicht mehr aus. Der kleine Markus spielte zunächst bei Glückauf Altenstadt, dann mit Lutz Siebrecht auf der Doppel-Sechs im defensiven Mittelfeld beim SC Geislingen. „Markus war sehr talentiert“, sagt Siebrecht, „hatte aber leider immer wieder große Verletzungsprobleme.“

In der Bebelstraße 28 in Geislingen-Altenstadt wuchs Gisdol mit seiner Familie auf
In der Bebelstraße 28 in Geislingen-Altenstadt wuchs Gisdol mit seiner Familie auf © Kai Schiller

An diese Zeit erinnert sich auch Karl Maurer noch gut und gerne. Der 77 Jahre alte Rentner wohnt mittlerweile bei Lindau am Bodensee, zögerte aber keine Sekunde, die knapp zwei Stunden Autofahrt auf sich zu nehmen, um in Erinnerungen zu schwelgen. „Des wa a schöne Zeid“, schwäbelt der frühere Betreuer vom SC Geislingen, dessen Sohn Karsten jahrelang mit Gisdol und Siebrecht in der selben Mannschaft spielte. Es ist kurz nach 14 Uhr, als Maurer am Clubhaus des SC Geislingen vorfährt. „Grüß Gott“, sagt er, die rechte Hand zur Begrüßung ausgestreckt, in der linken Hand eine Tüte mit drei Fotoalben. Maurer zieht den ersten Ordner heraus, zeigt die Fotos und die sauber eingeklebten Artikel. „Eine Rasselbande auf Titelkurs“, steht über einem Artikel der „Neuen Württembergischen Zeitung“.

„In der Jugendarbeit war Geislingen damals die Nummer drei in Baden-Württemberg“, sagt Maurer. „Nur der VfB und die Kickers waren noch größer.“ Auch sein Sohn Karsten sei ein richtig Guter gewesen, so Maurer. „Aber er war nie so ein Ehrgeizling. Der Markus war anders, der war schon immer sehr ehrgeizig.“ Deswegen habe Gisdol auch so eine beeindruckende Trainerkarriere hingelegt, als er mit nur 27 Jahren seine Spielerkarriere wegen andauernder Knieschmerzen beenden musst.

Geislinger sehen Gisdol plötzlich im TV

Von der TSG Salach in der Kreisliga A (1997 bis 1999) ging es über den FTSV Kuchen (2000 bis 2002) in die Bezirksliga bis zu Gisdols Heimatverein SC Geislingen in der Oberliga, wohin Kumpel Siebrecht, damals Spieler-Sportchef, ihn als Trainer holte. „Markus ist die Karriereleiter von ganz unten Schritt für Schritt nach oben geklettert“, sagt Siebrecht, der sich noch gut daran erinnert, wie Gisdol auch in der Kreisliga schon aggressives Pressing und ballorientierte Raumdeckung spielen ließ.

Lutz Siebrecht spielte zusammen mit Gisdol und absolvierte mit ihm die Lehre zum Kaufmann im Groß- und Außenhandel
Lutz Siebrecht spielte zusammen mit Gisdol und absolvierte mit ihm die Lehre zum Kaufmann im Groß- und Außenhandel © Privat

Dies blieb auch dem großen VfB Stuttgart nicht verborgen, der Gisdol 2005 als U17-Trainer für den Nachwuchs holte. Nach kurzen Gastspielen in Großaspach und in Ulm wechselte Gisdol 2009 zur zweiten Mannschaft von Hoffenheim. Es folgte ein Jahr als Assistenztrainer bei Schalke 04 und schließlich 2013 erneut in Hoffenheim seine erste Stelle als Bundesliga-Cheftrainer.

„Der Markus hat da ordentlich Wirbel gemacht“, erinnert sich Maurer, der Gisdol nach 20 Jahren plötzlich im Fernsehen auf der Trainerbank wiedersah und sofort den Kontakt neu aufnahm. Der ehemalige Betreuer nimmt seine Brille ab und reibt sich die Augen. Hoffenheim war damals im Prinzip ja schon abgestiegen, sagt Maurer. „Dann kam der Markus, rettete den Club und ließ keinen Stein auf dem anderen.“

Als Trainer fing Gisdol in der Kreisliga A an

Im Clubhaus des SC Geislingen erinnert noch heute eine DVD im Schaukasten am Eingang an Gisdols Zeit in Hoffenheim. „Das Spiel des Jahres – Willkommen daheim!“ steht auf dem Cover, das Gisdol in Hoffenheim-Jacke zeigt. Zehn Euro kostet die DVD, auf der man das Freundschaftsspiel zwischen dem SC Geislingen und Hoffenheim im Sommer 2013 noch mal in ganzer Länge bestaunen darf. „Vielleicht kommt ja auch der HSV mit dem Markus noch mal nach Geislingen“, sagt Maurer, der selbstverständlich auch beim Spiel der Spiele 1984 im Stadion dabei war.

Nach zwei Stunden steckt Maurer seine Fotoalben zurück in seine Tüte. „Damals war der HSV noch eine richtig große Nummer“, sagt er und seufzt. Hoffentlich wisse der Markus, auf was er sich da eingelassen habe, sagt Maurer. Das 0:3 gegen Frankfurt habe er im Fernsehen gesehen und sei entsetzt über den Zustand der Mannschaft gewesen. Keiner habe sich aufgebäumt, keiner habe sich dem Debakel entgegengestellt. Maurer schüttelt den Kopf, nimmt einen großen Schluck Apfelschorle. Wenn aber einer diese tote Mannschaft wiederbeleben könne, so Maurer, dann nur Gisdol. „Wenns oiner schafft, dann onser Markus“, sagt Maurer. „Er isch der richtige Mann, er woiß genau, was er zu don het.“

HSV-Pressekonferenz vor dem Spiel beim 1. FC Köln

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