Hamburg. Artjoms Rudnevs - ein Aussortierter im Ausnahmezustand. Oder einfach nur der ganz normale HSV-Wahnsinn.
Exakt 109.592.406 Freunde hat Cristiano Ronaldo bei Facebook. Gut 83 Millionen Anhänger sind es bei Messi. Und immerhin noch rund 55 Millionen Menschen im Netz folgen Neymar. Und Artjoms Rudnevs? Keiner. Der HSV-Profi hat nicht einmal eine offizielle Facebook-Seite, nur eine mehr oder weniger gut gefälschte Fan-Seite. Doch dazu später mehr.
An dieser Stelle muss zunächst festgehalten werden, dass es selbstverständlich absurd wäre, eine Parallele zwischen Rudnevs auf der einen und den Real-Barça-Superstars auf der anderen Seite zu ziehen. Der Vergleich hinkt schon deshalb, weil vor dem heutigen Spiel gegen Eintracht Frankfurt (20.30/Sky und im Liveticker bei abendblatt.de) in Hamburg weit mehr über den HSV-Stürmer alleine geschrieben und gesprochen wurde als über die drei Facebook-Weltstars zusammen. Ronaldo? Messi? Neymar? Von wegen! Das Motto des Abends lautet: Mach’s noch einmal, Rudi!
„Wenn sich einer diesen ganzen Rummel verdient hat, dann der Rudi“, sagt Katrin Wiesner. Die 47 Jahre alte Ratzeburgerin ist HSV-Anhängerin durch und durch, Dauerkartenbesitzerin, Auswärtsfahrerin und sogar Präsidentin vom offiziellen Fanclub „Sektor Nord Hamburg“. Das alles ist nichts Ungewöhnliches bei offiziell mehr als 73.000 HSV-Mitgliedern. Ungewöhnlich ist nur eines: Wiesner ist nicht nur HSV-Fan, sie ist Rudnevs-Fan. „Bekennender Rudnevs-Fan“, so Wiesner.
„Ich kann gar nicht in Worte fassen, wie sehr ich mich am vergangenen Wochenende für den Rudi gefreut habe“, sagt die Schleswig-Holsteinerin, die auf den Rudnevs-Zug nicht erst nach seinem Tor am Sonntag beim 3:2-Sieg gegen Gladbach aufgesprungen ist. „Ich fand den Rudi schon immer gut. Zwölf Tore hat er in seinem ersten Jahr für uns gemacht“, sagt sie. „Und trotzdem hat er danach von all den ganzen Trainern nie eine Chance bekommen.“
HSV-PK vor Frankfurt:
Artjoms Rudnevs ist ein ungewöhnlicher Fall. Einerseits. Andererseits ist er so eine Art Prototyp des HSV-Profis. Tatsächlich erlebte der Stürmer insgesamt sieben Trainer beim HSV. Rudnevs wurde für viel Geld gekauft, gefeiert, geliebt, gehasst. Er wurde verschmäht, verliehen und vergrault. Aussortiert und auserwählt. Und schließlich wieder: geliebt und gefeiert. Die ganze HSV-Achterbahn einmal hoch, runter und wieder hoch. Wer eine Erklärung für Rudnevs’ spezielle Jahre beim HSV hat, der hat auch eine Erklärung für den HSV im Allgemein.
„Rudi kennt die nicht so schöne Seite des Fußballs. Jetzt lernt er mal die schöne Seite kennen“, sagte Kollege Matthias Ostrzolek nach dem berauschenden Sieg gegen Gladbach. „Die wird ihm sicher mehr Spaß machen.“
Dieser begann schon direkt nach dem Spiel gegen Gladbach, als Rudnevs vom Vorsänger der Poptown-Ultras aufs Podest vor die Nordkurve gebeten wurde. Doch der wirkliche Rudnevs-Rummel sollte erst noch folgen. „Ruuudi!“, titelte die Bild-Zeitung am Montag. Mit drei „u“s. „Rudi-Riese“ ließ sich die Mopo am Dienstag einfallen. Und am Mittwoch wurde der Lette von der DFL zum Spieler des 21. Spieltags gewählt. „Rudi hat das gut gemacht. Er hat sich bei uns reingespielt“, sagte Trainer Bruno Labbadia, ehe das Team am Donnerstag mit dem Flieger Richtung Frankfurt abhob, wo die Rudnevs-Festwoche an diesem Freitag ihren möglichen Höhepunkt erreichen soll.
„Wahrscheinlich spürt er gerade zum ersten Mal in seiner HSV-Zeit so etwas Ähnliches wie Vertrauen“, sagt Rudi-Anhängerin Wiesner. Die alleinerziehende Mutter hatte sich das Trikot mit der Nummer 16 vor zwei Jahren gekauft, als kaum noch jemand was auf die Nummer 16 beim HSV gesetzt hatte. „Rudi kam gerade nach einem halben Jahr in Hannover zu uns zurück“, sagt Wiesner. „Wahrscheinlich hatte damals niemand gedacht, dass er noch einmal für uns Tore schießen wird.“
Fast niemand. „Rudnevs selbst hat immer daran geglaubt, dass er seine Chance beim HSV noch einmal bekommt“, sagt der lettische Journalist Mikelis Osis, der Rudnevs Karriereweg wie kaum ein anderer begleitete. „Auch wenn objektiv betrachtet alles ziemlich hoffnungslos für ihn aussah, hörte er nie auf, daran zu glauben, dass es irgendwann besser laufen wird“, sagt Osis, der einer der wenigen Journalisten ist, dem der medienscheue Rudnevs in der Vergangenheit Interviews gab.
HSV schlägt Gladbach:
HSV schlägt Gladbach mit viel Offensivpower
Die Frage, ob Rudnevs, dessen Vertrag im Sommer ausläuft, plötzlich doch wieder eine Zukunft beim HSV haben könnte, kann allerdings auch Osis nicht wirklich beantworten. „Es ist höchstwahrscheinlich, dass Rudnevs gerne in Hamburg bleiben würde“, sagt der lettische Journalist. „Rudnevs ist ein Familienmensch. Und er hat schon einmal gesagt, dass er keinen Grund sieht, woanders zu spielen, wenn sich seine Familie in Hamburg wohl fühlt.“
So auch am vergangenen Sonntag, als Rudnevs für einen kurzen Moment sogar Ronaldo-Messi-Neymar in den sozialen Netzen den Rang abzulaufen schien. „HSV 4 Ever!“, HSV für immer, wurde bei Facebook in Rudnevs’ Namen verbreitet – ehe bekannt wurde, dass es sich um einen gefälschten Eintrag handelte (Das Abendblatt berichtete). 2842 „Freunden“ hat es trotzdem gefallen. Immerhin: Bis zu Ronaldo fehlen somit nur noch 109.589.564 Likes.