Hamburg. HSV-Trainer steht erneut vor schwerer Rückrunde. Doch während er 2010 als Teil des Problems galt, ist er heute einziger Lösungsansatz.

Pünktlich zum Trainingsstart am späten Mittwochmittag wurde es im Stadionrestaurant Die Raute dunkel. Weiße Jalousien versperrten den sonst freien Blick auf den Rasen. Und auch eine Etage weiter unten im Arena-Fanstore wurde die höchste Geheimhaltungsstufe aktiviert. Mit provisorisch aufgehangenen Stoffplanen wurde hier die vorletzte HSV-Einheit vor dem Rückrundenstart gegen die Bayern (Fr/20.30 Uhr) vor allzu neugierigen Blicken geschützt. Die Frage, die sich bei so viel Geheimniskrämerei zwangsläufig aufdrängte: Will der HSV etwa die Bayern mit einer Überraschungself überrumpeln? Labbadia lacht. „Bei uns stellt sich die Mannschaft doch ohnehin von alleine auf. Da gibt es nicht viel zu verbergen.“

Einen Tag vor dem Nord-Süd-Klassiker zum Start in die zweite Saisonhälfte ist das Potenzial für Überraschungen tatsächlich sehr übersichtlich. René Adler wird im Tor spielen, natürlich. Rechts hinten ist Dennis Diekmeier gesund und gesetzt, links hinten darf Matthias Ostrzolek ran. Mit ein wenig Glück stellt sich auch die Innenverteidigung von alleine auf: Cléber darf den verletzten Emir Spahic (Einriss der Bauchmuskulatur) ersetzen, Kapitän Johan Djourou soll daneben verteidigen. „Johan hat leider seit Montag Schmerzen am linken Knie“, schränkt Labbadia zwar ein, setzt aber mangels Alternative („Da haben wir nicht mehr viele“) auf einen Einsatz des Schweizers.

Die Not-Doppelsechs gegen den Rekordmeister dürften Lewis Holtby (fit und gesund) und Gojko Kacar (nicht fit und angeschlagen) bestücken. Vorne rechts ist Nicolai Müller konkurrenzlos gesetzt, vorne links Ivo Ilicevic. Im Zentrum dazwischen gibt es dann doch so etwas Ähnliches wie Konkurrenzkampf: Aaron Hunt und Michael Gregoritsch hoffen auf den Zuschlag. Und ganz vorne? Hält Pierre-Michel Lasoggas Schulter? „Darauf würde ich keine Wette abschließen“, antwortet Labbadia. „Aber es gibt noch ein wenig Hoffnung.“ Ein kleines bisschen Hoffnung also. Na dann.

Labbadia hofft auf Sahnetag

Wer nun aber schlussfolgert, der HSV habe im Prinzip keine Chance gegen den Rekordmeister, der irrt. Denn glaubt man dem HSV-Sponsor und Sportwettenanbieter Tipico, dann ist die Wahrscheinlichkeit für eine Überraschung gar nicht so utopisch schlecht: 1:12, wenn man es ganz genau nimmt. Zur Erklärung: Wer zehn Euro auf einen HSV-Heimsieg setzt, würde im Falle der Sensation 120 Euro gewinnen. „Wir müssen unsere Ordnung halten und eine gewisse Aggressivität an den Tag legen“, sagt Labbadia. „Und wir müssen einen absoluten Sahnetag erwischen.“ Immerhin: Vor dem Hinspiel im August (0:5) wurde die Quote noch mit 1:40 (!) angegeben.

„Wir sind uns im Klaren darüber, dass unsere Personaldecke sehr dünn ist und im Moment nichts mehr passieren darf“, sagte Labbadia. Nicht gestern. Sondern vor sechs Jahren. Damals musste er in der Vorbereitung auf die Rückrunde zeitweise auf zwölf HSV-Profis verzichten. Vor dem Rückrundenstart gegen Dortmund hatten die Hamburger seinerzeit noch zehn Leistungsträger zu ersetzen, darunter den heutigen Münchner Jerome Boateng, Guy Demel, Eljero Elia, Zé Roberto und Paolo Guerrero. „Die Voraussetzungen damals und heute sind andere“, wehrt Labbadia im Hier und Jetzt die Frage nach einem Déjà-vu-Erlebnis ab. „Wir hatten einen ganz anderen Kader – und auch ein anderes Anspruchsdenken.“

Das Ende der damaligen Geschichte ist ohnehin bekannt: Der anspruchsvolle HSV „rutschte ab“ – von Tabellenplatz vier auf Rang sieben. Zwei Spieltage vor Saisonende, zwischen Hin- und Rückspiel im Halbfinale der Europa League, zog die Vereinsführung die Reißlinie: Labbadia, der sich mit nahezu allen Führungsspielern überworfen haben soll und als Teil des aus heutiger Sicht Luxusproblems galt, musste gehen. Es war der Moment, an dem Labbadia der Stempel „Rückrundenabrutscher“ verpasst bekam: 2008/09 in Leverkusen: von fünf auf neun. 2009/10 beim HSV: von vier auf sieben. 2012/13 in Stuttgart: von neun auf zwölf.

HSV mit Bayern auf Augenhöhe?

Sechs Jahre später steht das Ende der Geschichte noch bevor. Doch schon jetzt scheint klar, dass Labbadia nicht mehr als Teil des Problems, sondern viel mehr als Teil einer Lösung, wahrscheinlich der einzigen Lösung, gilt. „Jeder hat mitbekommen, dass die Vorbereitung nicht optimal verlaufen ist“, sagt der Fußballlehrer, der trotz aller offensichtlichen Probleme den Blick nach vorne wagt: „Unsere Bergtour zum Gipfel ist noch ein bisschen steiler geworden. Aber wenn man es dann doch schafft, diesen Gipfel zu erklimmen, dann ist das ein schönes Gefühl.“

Ein Gefühl, das niemand im Lager der Hamburger besser als Labbadia selbst kennt. Denn er war es, unter dem der HSV das letzte Mal gegen die Bayern gewinnen konnte. Am 26. September 2009, 1:0, der Torschütze damals: Mladen Petric. „Es wäre schön, wenn wir am Freitag einen neuen Petric feiern könnten“, sagt Labbadia, dessen Nachfolger in 14 Aufeinandertreffen elf Niederlagen und nur drei Unentschieden gegen die Bajuwaren holten. Da fällt es auch nicht weiter ins Gewicht, dass der HSV sämtliche Testspiele – gegen Amsterdam, Erfurt und Bern – in der Rückrundenvorbereitung verlor. Denn: Auch die Bayern verloren, ihr einziges Vorbereitungsspiel, 1:2 gegen Karlsruhe. Also: Quoten und Ausfälle hin, Déjà-vus her: Nimmt man die Testspiele der Vorbereitung als wichtigsten Maßstab, dann sind die Hamburger und die Münchener vor dem Rückrundenstart – endlich auf Augenhöhe.