Viele HSV-Fans zucken nur noch mit den Schultern. Für den Verein geht es längst um mehr als nur den sportlichen Erfolg.

Das Herz! Jens Carsten Wulf kann und will nicht mehr. „Ich gucke mir die Spiele nicht mehr im Fernsehen an“, sagt der 91 Jahre alte Rentner. „Der HSV schadet meiner Gesundheit.“ Es ist 9.40 Uhr, und Wulf wartet darauf, dass er an die Reihe kommt.

Seit 44 Jahren geht er zu Ernst Schmidts Herrenfriseur in der Lappenbergsallee 1 in Eimsbüttel – und immer ist der HSV Gesprächsthema Nummer eins. Schon die Schaufenster mit großen blau-weiß-schwarzen Rauten deuten an, was den Kunden in Schmidts kleinem Friseurladen tatsächlich erwartet: H-S-V und kein Ende. Trikots, Autogramme und Fotos an den Wänden und in der Mitte des Raums dieser kleine lächelnde Mann, der sich wahrscheinlich ohne Übertreibung „größter HSV-Fan der Stadt“ nennen darf.

„Ich gehe ins Stadion, bis ich umfalle“, sagt Schmidt, der seit 1948 kaum ein Heimspiel seines Herzensclubs verpasst hat. „Das kann man sich doch nicht mehr angucken. Diese Mannschaft muss absteigen“, sagt Kunde Wulf, der von seinem Nebenmann unterbrochen wird. „Ich kenne mich ja nicht aus“, mischt sich Gerhard Andrikanis in die Fachsimpelei ein, „aber das Spiel gegen Leverkusen muss ja grausam gewesen sein.“ Auch der 80 Jahre alte Rentner ist seit 35 Jahren Stammkunde. Früher habe er um die Ecke in der Armbruststraße gewohnt, jetzt wohnt er in Schnelsen. „Seinen Friseur wechselt man ja nicht so mir nichts, dir nichts“, sagt Andrikanis. „Seinen Verein wechselt man nicht so mir nichts, dir nichts“, meldet sich „Coiffeur“ Schmidt, 88, wieder zu Wort.

Neun Euro kostet ein Herrenhaarschnitt, zwölf Euro ein Bürstenhaarschnitt, einmal Schnurrbart schneiden kostet zwischen 2,50 und 4,50 Euro – und ein Fachgespräch zum HSV gibt es gratis dazu. „Der HSV ist meine Familie“, sagt Schmidt, der mit dem Trockenhaarschnitt seines Kunden, ebenfalls ein Schmidt, Günter Schmidt, fast fertig ist. Mit Sohn Kai-Ullrich und Enkel Christopher hat der Friseur, der früher auch 1960-Meister Horst Schnoor die Haare schnitt, Dauerkarten auf der Südtribüne. „Aber nach dem Spiel gegen Bayer war ich schon sehr enttäuscht“, sagt Schmidt, das muss ich schon zugeben.“ Den Dietmar Beiersdorfer, den finde er trotz der bescheidenen Saison gut, den Valon Behrami dagegen eher nicht. „Der hat eine merkwürdige Frisur“, sagt der Fachmann.

Beiersdorfer, den alle nur „den Didi“ nennen, weiß, dass es in Hamburg immer weniger Fans wie Ernst Schmidt gibt. „Nach mehreren Jahren voller Misserfolge fällt es den HSV-Fans schwer, sich immer wieder aufzurichten“, sagt der Vorstandsvorsitzende des HSV. „Aber mir bleibt nichts anderes übrig, als zu bitten, dass die Anhänger weiter zu ihrem Club stehen und dass wir gemeinsam durch das Tal gehen.“

Ben Flamang, 23,  und Kelly Reischl, 20, aus Luxemburg schauten gestern mit Hund Alfi, 2, im Volkspark beim Training vorbei
Ben Flamang, 23, und Kelly Reischl, 20, aus Luxemburg schauten gestern mit Hund Alfi, 2, im Volkspark beim Training vorbei © Michael Rauhe | Michael Rauhe

Ben Flamang muss Beiersdorfer nicht überzeugen. Der Luxemburger steht weiter zu seinem HSV. Wieso? Weshalb? Warum? Das kann der 23 Jahre alte Anhänger auch nicht so richtig erklären. „Eigentlich hat es der HSV verdient abzusteigen.“ Es ist 10.25 Uhr, und Flamang steht mit seiner Freundin Kelly, 20, und dem gemeinsamen Hund Alfi, 2, am Trainingsplatz und wartet auf die „Helden“ in kurzen Hosen. „Einerseits hat man immer noch Hoffnung, doch anderseits denkt man sich auch manchmal: Es reicht!“, sagt der Tourist, der sich mit seiner Freundin drei Tage lang Hamburg anschaut. Eine Hafenrundfahrt, ein Reeperbahnbummel, ein Schanzenbesuch und ein HSV-Training, so lautet das Programm. „Ich hoffe auf ein Autogramm von Rafael van der Vaart“, sagt Kelly, die aber selbst zugibt, dass sie keine Ahnung von Fußball hat. Früher sei er noch Mitglied gewesen, meint Flamang, aber irgendwann hatte er keine Lust mehr.

Das Gefühl, keine Lust mehr zu haben, dieses Gefühl breitet sich in der Stadt immer mehr aus. In der vergangenen Saison gab es kaum einen Hamburger, dem das Schicksal des abstiegsgefährdeten HSV egal gewesen wäre. Das Abendblatt initiierte die Aktion „Niemals Zweite Liga“, die Facebook-Gruppe „HSV – Die fünf Gebote im Abstiegskampf“ hatte schnell mehr als 30.000 Mitglieder, und bei einem Fanmarsch zum Trainingsplatz kurz vor dem Saisonfinale nahmen spontan 400 Anhänger teil. Und heute?

Schifffahrtskaufmann Jan Bartels, 40, geht seit 33 Jahren zum HSV – seit einem Jahr fehlt ihm etwas
Schifffahrtskaufmann Jan Bartels, 40, geht seit 33 Jahren zum HSV – seit einem Jahr fehlt ihm etwas © Michael Rauhe | Michael Rauhe

„Die Niederlagen nehmen mich nicht mehr so sehr mit wie früher“, sagt Jan Bartels um 11.40 Uhr und schaut aus dem Konferenzraum der Hansa Treuhand Holding AG auf die Außenalster. Der 40 Jahre alte Schifffahrtskaufmann ist seit 1982 HSV-Fan, Horst Hrubesch war sein Kindheitsheld. Bartels hat HSV-Spiele auf Geschäftsreisen am Hotelfernseher in Hongkong und Shanghai verfolgt, er ist seit 2006 Mitglied, hat seit sieben Jahren eine Auswärtsdauerkarte. „Manchmal bereue ich den Schritt vom einfachen Fan zum aktiven Fan“, sagt der Vorstand, der im vergangenen Jahr aktiv Wahlkampf gegen HSVPlus gemacht hat. Doch selbst als der HSV e.V. am 25. Mai ausgegliedert und die HSV AG gegründet wurde, hatte Bartels noch immer nicht genug. „Richtig ausschalten kann ich mein HSV-Herz einfach nicht.“

Also fährt er auch weiterhin zu Auswärtsspielen, geht weiterhin in den Volkspark. Doch irgendetwas hat sich in diesem Jahr verändert. „Ich finde kaum noch Leute, die mit mir fahren wollen. Alle die, die früher immer dabei waren, haben einfach keine Lust mehr“, sagt Bartels, der auch Gründungsmitglied des HFC Falke e.V. ist. Doch Bartels unterscheidet zwischen seiner Leidenschaft für Falke, den Verein, der von einigen abtrünnigen HSV-Fans im vergangenen Sommer gegründet wurde, und dem HSV. „Mir liegt der HSV am Herzen. Aber es fällt schon auf, das in diesem Jahr etwas fehlt. Etwas sehr Entscheidendes.“

Die Unterstützung auf der Tribüne zum Beispiel, die fehlt. Die Ultragruppierung Chosen Few (CFHH), die in den vergangenen Jahren für die Stimmung im Stadion verantwortlich war, hatte vor der Saison bekannt gegeben, nicht mehr als Gute-Laune-Clowns zur Verfügung zu stehen. „Die CFHH wird in der kommenden Saison die ausgegliederte Profiabteilung nicht unterstützen“, hatte CFHH wenige Wochen nach der Mitgliederversammlung am 25. Mai in einem öffentlichen Brief mitgeteilt. Es war so etwas wie der Anfang vom Ende. Ausgerechnet die, die den HSV in guten wie in schlechten Zeiten zur Seite standen, mochten nicht mehr. Zwar gab es hier und da ein paar halbherzige Versuche der Verantwortlichen, das Gespräch mit den Treusten der Treuen zu suchen. Doch was zu viel ist, das ist zu viel.

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© Michael Rauhe | Michael Rauhe

„Jeder muss das für sich selbst entscheiden“, sagt Joachim Eybe. Mittlerweile ist es 12.25 Uhr. Eybe steht in seinem Laden „1887 Streetwear“ in der Altstadt. Pullover, T-Shirts, Mützen, Caps. Immer dabei: die 1887, das Gründungsjahr des HSV. Doch statt Kunden zu beraten, kann Eybe in Ruhe über die Lage des HSV philosophieren. Es gibt keine Kunden. „Die sportliche Krise des HSV hat sich natürlich auch auf unser Geschäft ausgewirkt“, sagt der 46 Jahre alte Familienvater.

Früher, als der HSV unter der Woche noch in ganz Europa unterwegs war, da waren die Fanartikel mit der 1887 noch ein Selbstrenner. Doch nach und nach wurde alles weniger, der sportliche Erfolg und die Lust auf Shirts und Jacken in blau-weiß-schwarz. „Die Leute kaufen nichts mehr, wenn sie nichts mehr erwarten“, sagt Eybe, der seit 1990 Mitglied ist.

Seit 1983, dem Jahr, in dem der HSV zuletzt Deutscher Meister wurde, fährt der gelernte Werbekaufmann zu Auswärtsspielen. „Ich war so ziemlich bei jeder bitteren Niederlage dabei“, sagt Eybe, „nur bei den guten Spielen war ich irgendwie nie im Stadion.“ Und trotzdem kann und will er nicht so einfach Schluss machen. Er sei nun mal ein Optimist, das wisse er selbst. „Wenn es nach 75 Minuten mal wieder 0:2 steht, dann hoffe ich immer noch auf ein 2:2. Ich gebe immer alles.“ Als es aber am vergangenen Wochenende bereits nach 63 Minuten 0:4 stand, da schwand selbst Eybes Hoffnung.

Viel fehlt nicht mehr, dann sind auch die letzten, die allerletzten HSV-Anhänger weg. „In Leverkusen waren immer noch viele Fans, die Haltung und Präsenz gezeigt haben“, sagt HSV-Chef Beiersdorfer. „Ich wünschte nur, dass sich dies auch auf unsere Spieler abfärben würde.“

Gastronom Hanna Saliba, 65, hisst vor seinem Restaurant die HSV-Flagge
Gastronom Hanna Saliba, 65, hisst vor seinem Restaurant die HSV-Flagge © Michael Rauhe | Michael Rauhe

Das hofft auch Hanna Saliba. Um 14.05 Uhr steht der Syrer vor seinem gleichnamigen Restaurant an den Alsterarkaden und zeigt auf die große HSV-Fahne. Zu Heimspielen würde er die Flagge hissen, ganz egal, was da auch kommen mag. „Ich wohne seit 45 Jahren in Hamburg, und ich bin seit 45 Jahren HSV-Fan“, sagt der Gastronom.

Felix Magath und Bernd Hollerbach gingen bei ihm ein und aus, Ex-Stürmer Erik Meijer war ein gern gesehener Gast, und auch Beiersdorfer schaute immer mal wieder vorbei. „Didi ist ein Guter“, sagt Saliba, der nur die Beurlaubung von Trainer Joe Zinnbauer nicht verstehen kann. „Immer wieder wird der Trainer entlassen. Aber am Trainer liegt es nicht, es liegt an der Mannschaft“, sagt der 65-Jährige. Und wenn es diese Mannschaft tatsächlich in diesem Jahr erwischt? „Dann gehe ich eben in der Zweiten Liga ins Stadion“, sagt Saliba.

Sänger Michael Wendt, 39, leidet, hofft – hofft und leidet
Sänger Michael Wendt, 39, leidet, hofft – hofft und leidet © Michael Rauhe | Michael Rauhe

Ob nach einem Abstieg tatsächlich alle ins Stadion pilgern werden, die dies sagen, ist fraglich. Einer wird auf jeden Fall wiederkommen: Michael Wendt, Frontmann der HSV-Band Abschlach!. Noch immer kann er sich an seinen ersten Stadionbesuch erinnern, als ob es gestern gewesen wäre: die Saison 1987/88. Waldhof Mannheim hieß der Gegner. Vier Mark kostete das Ticket – und am Ende stand 4:0 auf der großen Anzeigentafel im alten Volksparkstadion. „Ich war infiziert“, sagt Wendt.

Seinen anderthalb Jahre alten Sohn hat der Familienvater am Tag nach dessen Geburt beim HSV angemeldet, er selbst ist seit 26 Jahren Mitglied – und seit einem Jahr desillusioniert. „Ich merke, dass ich immer mehr abgestumpft werde“, sagt Wendt. Ob der HSV den Abstieg nicht sogar verdient hätte? „Verdient hätten sie den Abstieg schon in der vergangenen Saison“, antwortet Wendt, „mit einem kräftigen Tritt in den Hintern.“

Es ist bereits 15.30 Uhr, seit 47 Jahren die Hauptanstoßzeit an Sonnabenden. Wendt steht vor seinem Büro in Stellingen im Marlowring, nur 2,7 Kilometer vom Volksparkstadion entfernt. Man redet über die Spieler („die haben nichts verstanden“), über die Verantwortlichen („nichts gelernt“) und über den drohenden ersten Abstieg. Warum es der HSV doch noch schaffen kann? Warum es sich lohnt, an ein Wunder zu glauben? Wendt weiß es nicht. Er will die Hoffnung nicht aufgeben, dabei weiß er nur eines: Auch sein Herz tut verdammt weh. Sein HSV-Herz.