Dietmar Beiersdorfer arbeitete für den HSV als Spieler, dann als Manager. Jetzt ist der 50-Jährige der Chef, und mancher, der ihn noch von früher kennt, erlebt eine Überraschung. Ein Porträt von Alexander Laux.
Das Jahr 2002 war ein schicksalhaftes im Leben von Dietmar Beiersdorfer. Der damals 38-Jährige wohnte auf St. Pauli in der Simon-von-Utrecht-Straße. Allein. Seine Ehe war schon vor einiger Zeit zerbrochen. Da er ungern selbst kochte, entwickelte sich das nahe gelegene türkische Restaurant Mr. Kebab schnell zu einem beliebten Anlaufpunkt. Besonders die Zucchini-Puffer mit Karottensoße hatten es ihm angetan. Und weil Beiersdorfer schon immer gut beobachten konnte, entging ihm nicht, dass die Bestellung regelmäßig von einer ziemlich attraktiven, dunkelhaarigen Frau serviert wurde. So dauerte es nicht lange, bis Beiersdorfer das Lokal nicht nur besuchte, wenn er Hunger verspürte. Und als er schließlich eines Abends als letzter Gast ausharrte, kündigte die Frau namens Olcay an, dass es jetzt Zeit für die letzte Runde sei. Nach dem Pfefferminztee gab es kein Zurück mehr. Hochzeit 2006.
2002 schien Beiersdorfer den Fußball nur noch zu streifen, fünf Jahre lag seine Profikarriere, durch eine Augenverletzung jäh gestoppt, schon zurück. „In den ersten Monaten kam ich schon ein bisschen ins Trudeln.“ Aus der schrillen Fußballwelt herausgefallen zu sein, nicht mehr angerufen zu werden, nicht mehr gefragt zu sein – es brauchte seine Zeit, sich daran zu gewöhnen: „Niemand mehr da, der dir ein tägliches Feedback gibt.“ Am Ende der Orientierungsphase standen zwei Vorhaben fest. Erstens: Ich will in den Fußball zurückkehren. Zweitens: Ich will gefragt werden.
Also nahm Beiersdorfer im Oktober 1998 an der Hamburger Universität für Wirtschaft und Politik sein Betriebswirtschaftsstudium wieder auf, das er für seinen Profivertrag beim HSV 1986 unterbrochen hatte. „Als Fußballspieler musste ich erst wieder die normale Arbeit erlernen, die Regelmäßigkeit, die Disziplin.“ Offenbar mit Erfolg. Seine Diplomarbeit „Swot-Analyse eines Fußballunternehmens im Vorwege des Börsengangs“ wurde 2001 mit der Note 1,0 ausgezeichnet. Als ihm die Unternehmensberatung KPMG danach eine Stelle als Wirtschaftsprüfungsassistent in Bremen anbot, griff Beiersdorfer zu. Das Fußball-Business rückte wieder ein Stück näher. Er prüfte den HSV, den FC St.Pauli, Adidas, den Sportrechte-Händler ISPR und gab sein Wissen als Dozent an der Uni Hamburg an angehende Sportwissenschaftler weiter.
2002. Nichts deutete zunächst auf einen radikalen Kurswechsel in seinem Berufsleben hin. Die Doktorarbeit über strategisches Management bei Fußballvereinen (Balanced scorecard) war auf 100 Seiten angewachsen, als etwas völlig „Ungeplantes“ geschah: Beiersdorfer rief bei Udo Bandow an, damals Aufsichtsratsvorsitzender beim HSV. Bei seinem HSV.
Dorthin hatte Manager Günter Netzer ihn 1986 verpflichtet – und zwar in einer Hotelkneipe in Fürth, wo er geboren ist. „Ich saß dem Mann gegenüber, der drei Jahre über meinem Bett als Poster gehangen hatte. Ich sollte 5000 Mark Gehalt bekommen, kämpfte um 500 Mark mehr. Netzer lachte sich, glaube ich, innerlich halb tot.“ Aber die 500 Mark bekam Beiersdorfer.
Gleich in seinem ersten Jahr eroberte sich der 1,87 Meter große Abwehrspieler einen Stammplatz und gewann den DFB-Pokal, bis heute der letzte Titelgewinn der Hamburger. Zielstrebig, aber unaufgeregt, so kannte man ihn auch schon als Spieler. Und stets neugierig, hinter die Fassaden zu blicken, zum Beispiel als Co-Autor eines Buchs über Fußball und Rassismus. Beiersdorfer stieg zum Kapitän auf und feierte 1991 sogar sein Debüt im Nationaltrikot.
Doch die Teilnahme am Europameisterschaftsturnier 1992 verpasste der Abwehrspieler verletzungsbedingt. So machte er gegen Belgien zwei Länderspiele: sein erstes und letztes. Im Sommer 1992 verkaufte ihn der HSV nach Bremen, weil er Geld brauchte.
Zehn Jahre später also der Anruf bei Udo Bandow, eine aktive Bewerbung als Manager der Rothosen. Beiersdorfer hatte mitbekommen, dass der Vertrag von Holger Hieronymus nicht verlängert werden würde. „Ich habe mich über mich selbst gewundert“, sagt Beiersdorfer schmunzelnd. Eigentlich war es ja so, dass er gefragt werden wollte. Aber egal. „Es war eine mutige Entscheidung, einem Novizen dieses nicht gerade einfache Amt zu übertragen.“ Beiersdorfers Erfolg bestätigte Bandow & Co – erst 2009 verließ er den HSV, weil nichts mehr ging zwischen ihm und dem Vorsitzenden Bernd Hoffmann.
Heute sitzt er selbst auf Hoffmanns Stuhl. Am 3. Juli 2014 hat der 50-Jährige sein neues Amt beim HSV angetreten. Das Haar ist einige Zentimeter kürzer als damals und grauer. Ob er sich auch sonst verändert habe, anders an die Aufgabe herangehe, konsequenter? Er überlegt. „Vielleicht denkt man, dass man nicht mehr so viel Zeit hat“, sagt er dann. „Die Fülle der Aufgaben lässt mich aber nicht darüber nachdenken, was ich mache. Dabei versuche ich gerade, mich nicht treiben zu lassen.“
Die Erfahrungen der vergangenen Jahre haben Beiersdorfer reifen lassen, seine Rhetorik ist klarer, er verliert sich kaum noch in seiner reichhaltigen Gedankenwelt. Wer glaubte, dem HSV würde jetzt ein etwas vergeistigter Zauderer vorstehen, irrte sich gewaltig. Im Eiltempo wurden neue Strukturen geschaffen, Sportchef Oliver Kreuzer und Trainer Mirko Slomka mussten gehen. Viele sind schon in die Falle des zurückhaltend-bescheidenen Auftretens getappt, haben sich vom harmonischen Klang seines Spitznamens „Didi“ einlullen lassen. Beiersdorfer lacht sogar leise. Aber Autorität braucht nicht immer Getöse. „Manchmal musst du Unangenehmes angehen, um andere Entscheidungen treffen zu können, die mehr Spaß machen.“
2002. In seinem ersten Abendblatt-Interview als HSV-Manager hatte Beiersdorfer gefordert: „Einzelinteressen müssen zurücktreten.“ Ein Satz, heute aktueller denn je. Sein Führungsmotto, um den finanziell und sportlich schwer in Schieflage geratenen Club zu retten? „Begeisterung wecken, die Menschen mitnehmen und zusammenführen, damit sie ihren Job mit Spaß und Liebe verrichten und ihren Beitrag für den Erfolg leisten, das gesamte Gebilde HSV mit Energie versorgen. Fußball ist nicht immer rational zu erklären, sondern auch sehr energiebestimmt.“
Mit Hamburg verbindet Beiersdorfer Kindheitserinnerungen. In den Ferien nahm ihn sein Vater Walter, ein Vertreter für Elektrowaren, mit auf seine Dienstreisen. Höhepunkt der Städtereisen war immer der Besuch der Fußballstadien. Nur einmal gab es Stress, als sich der Zehnjährige weigerte, in einem Hotel auf St. Pauli zu übernachten. „Ich hatte panische Angst, weil ich vorher was von Messerstechereien gehört hatte.“ Der Vater lenkte ein – und fuhr weiter nach Uetersen.
Das Fernweh blieb seit dieser Zeit sein ständiger Begleiter. Am Extremsten durfte sich Beiersdorfer als sportlicher Leiter des Brauseherstellers Red Bull (2009 bis 2011) austoben: Reisen durch Süd- und Nordamerika, Afrika und Europa. „Auf 350.000 Flugmeilen kam ich sicher im Jahr.“ Ein Abenteuer war auch die Zeit bei St. Petersburg (2012 bis 2014), als er mit so vielen Millionen von Sponsor Gazprom auf Einkaufstour gehen durfte, dass er schon von „Dukaten-Didi“ (nach gelungenen Transfers in Hamburg) in „Didi Buyersdorfer“ umgetauft wurde. Der polyglotte Manager parlierte mit Trainer Luciano Spalletti auf Italienisch, die Administration wurde auf Englisch erledigt. Und mit den Straßennamen St. Petersburgs lernte er Kyrillisch. Doch auch in Russland blieb er gern im Hintergrund: Erst vier Monate nach seinem Amtsantritt bat ihn die Pressestelle um ein Foto – man wollte ihn auf der Internetseite als Sportdirektor vorstellen.
Wo würde einer wie er, der so viel von der Welt gesehen hat, gerne noch mal leben? „In New York.“ Wo sonst. Dort einfach durch die Straßen zu schlendern, die vielen Kultureinflüsse aufzusaugen, nicht von Eindimensionalität eingeengt zu werden – ja, das wäre ganz nach dem Geschmack Beiersdorfers, der seine Werte ständig auf die Gültigkeit überprüft und seinen Gesprächspartner nach einer an ihn gerichteten Frage gerne mal mit den Worten überrascht: „Was meinst du denn?“
In Hamburg soll ausgerechnet er, der sonst so gern ausreißt und unangepasst bleiben möchte, ein Fels, ein Fixpunkt für alle leidgeprüften HSV-Fans sein. Es wird schwieriger sein, „die Dinge ab und zu von außen zu betrachten, wenn man Teil des Systems geworden ist“, wie er bekennt. Wenn die HSV-Mannschaft aufläuft, verspürt er den Druck und die Anspannung in sich hochkriechen, die Ohnmacht, nichts mehr bewirken zu können. Das Leben in der Öffentlichkeit sei im Vergleich zu früher extremer geworden, hat er registriert. Seine Authentizität will er sich bewahren: „Ich schaue nicht auf Kurzfristiges, sondern auf den längeren Weg. Am Ende wird sowieso alles aufgedeckt, ich kann niemandem etwas vormachen.“
Getreu dem Motto eines damaligen Professors („Ein Verein muss seine Sprachlosigkeit überwinden, sonst kommt er selbst ins Gerede“) wird Beiersdorfer also in den nächsten Jahren versuchen, dem HSV eine neue Identität zu verschaffen und diese als erster Botschafter des Clubs verbreiten, damit 2014 zu einem Wendejahr für den HSV wird. Ein Vorhaben, das aber auch unerwünschte Nebenwirkungen in sich birgt: „Olcay hat sich schon mal beklagt, dass mir zu Hause meine Worte ausgegangen sind.“ Immerhin, bei einer Sache muss Beiersdorfer seine Ehefrau nicht mehr überzeugen: Sie ist längst vom FC St. Pauli zum HSV konvertiert und hat auch schon Tochter Carla Can, fünf, mit ins Stadion genommen.