Nach dem 1:1 gegen Russland geht es für Gastgeber Polen im Gruppenfinale gegen Tschechien um alles. Siegen oder fliegen? Viertelfinale oder das Aus?

Warschau. Als die polnischen Fans tief in der Nacht auf Warschaus Straßen noch ausgelassen ihre Lieblinge feierten, dachten Robert Lewandowski, Jakub Blaszczykowski und Co. schon an das Spiel ihres Lebens. Im Gruppenfinale gegen Tschechien geht es für den Co-Gastgeber der Fußball-EM um alles. Siegen oder fliegen? Viertelfinale oder das Aus?

„Das wird wie ein kleines Finale. Jetzt haben wir alles in der Hand und wollen den nächsten Schritt machen. Und ich weiß, dass wir das auch schaffen“, sagte der starke Dortmunder Blaszczykowski nach seinem Traumtor beim 1:1 (0:1) der leidenschaftlich kämpfenden Polen gegen Russland. Dann fügte er hinzu: „Das wird das Spiel unseres Lebens.“

Zwar wartet Polen, der WM-Dritte von 1974 und 1982, immer noch auf den ersten EM-Sieg seiner Historie, „aber wir haben uns eine gute Ausgangsposition geschaffen. Das war unser Ziel“, sagte der Kölner Adam Matuschyk.

Schien die riesige Erwartungshaltung im ganzen Land die Polen im EM-Eröffnungsspiel gegen Griechenland (1:1) nach einer starken Anfangsphase noch zu lähmen, boten sie gegen die technisch starken Russen über 90 Minuten eine beherzte Leistung und wurden durch Blaszczykowskis sehenswerten Treffer (57.) nach dem Rückstand durch Alan Dsagojew (37.) belohnt. „Der Druck war nicht so groß wie im ersten Spiel“, berichtete Matuschyk.

+++ Noch hat Polen nicht ganz verloren +++

Das wird sich vor dem entscheidenden Spiel am Samstag in Breslau wieder ändern. Dessen war sich auch Lewandowski nach dem Abpfiff des souveränen Schiedsrichters Wolfgang Stark (Ergolding) bewusst. „Jetzt müssen wir unbedingt gewinnen. Nur das zählt“, sagte der Dortmunder Torjäger.

Die polnische Presse war voll des Lobes für die Mannschaft von Trainer Franciszek Smuda und den „göttlichen Blaszczykowski“ (Boulevardzeitung Fakt). „Wir sind immer noch im Spiel. Kuba rettet uns die EURO“, titelte Przeglad Sportowy, während Interia feststellte: „Die russische Walze ist gestoppt.“

Spätestens mit dem lockeren Training am Mittwoch war das Russland-Spiel jedoch aus den Köpfen der Polen verschwunden, der Fokus richtet sich auf die Tschechen. „Wir werden uns jetzt erholen und alles geben gegen Tschechien. Wir können weiterkommen, das hat dieses Spiel wieder bewiesen. Wir sind in der Lage, Tschechien zu schlagen“, sagte Smuda, für dessen Team ein drittes Unentschieden bei dieser EM das Aus bedeuten würde.

Während Polen zum Siegen verdammt ist, genügt den in 16 Spielen ungeschlagenen Russen am Samstag in Warschau gegen den Ex-Europameister Griechenland ein Punkt, um sicher das Viertelfinale zu erreichen. „Wir spielen gegen Griechenland - das muss klappen“, sagte Stürmer Alexander Kerschakow.

Allerdings gab es auch kritische Stimmen im Lager der Sbornaja, die nicht mehr ganz so leichtfüßig über den Rasen tanzte wie beim glanzvollen Auftaktsieg gegen Tschechien (4:1). Es gebe nichts, worüber man sich freuen könne. Man habe nicht gewonnen und müsse sich eher ärgern, sagte Roman Schirokow: „Bei uns reicht es nicht bis zum letzten genauen Pass. Das muss sich ändern.“ Kapitän Andrej Arschawin kritisierte, seine Mannschaft habe den Polen in der zweiten Halbzeit zu viel Raum gelassen habe.

Dies hat auch dem knurrigen Trainer Dick Advocaat nicht gefallen. Die Russen waren zwar spielerisch überlegen, im Abschluss aber zu harmlos. Zudem vernachlässigten die russischen Ballkünstler die Defensivarbeit. „Wir haben zu viele Chancen zugelassen. Wir müssen unser Abwehrspiel verbessern“, stellte der Niederländer Advocaat kurz angebunden fest.

Überschattet wurde die polnische EM-Party von Straßenschlachten, rechtsradikalen Parolen und fast 200 Festnahmen rund umn Warschau. Bei gewalttätigen Ausschreitungen am Dienstagabend in der Innenstadt und in der Nähe des Nationalstadions wurden 20 Personen verletzt, darunter zehn Polizisten. Selbst die mehr als 6000 Einsatzkräfte konnten die polnisch-russische Konfrontation nicht verhindern. Bis zum frühen Mittwochmorgen wurden 184 Hooligans festgenommen.

„Das war der schwierigste Tag der EM“, erklärte Polens Innenminister Jacek Cichocki und versprach die ersten Urteile gegen Gewalttäter bereits für Freitag. Außenminister Radoslaw Sikorski suchte am Mittwoch Staatspräsident Bronislaw Komorowski auf, um die Lage nach den Zusammenstößen zu erörtern. Regierungssprecher Pawel Gras erklärte im polnischen Rundfunksender RFM, weitere Festnahmen seien wahrscheinlich. „Die Gewalttäter sollen nicht glauben, dass sie ruhig schlafen können.“

Die Mehrheit der Festgenommenen, etwa 150 Gewalttäter, waren Polen, die teils vermummt, mit Feuerwerkskörpern, Steinen und anderen Wurfgeschossen Jagd auf russische Fans machten. Viele von ihnen waren für brutale Schlägereien vorbereitet und trugen bei der Festnahme beispielsweise einen Mundschutz für ihre Zähne, sagte der Warschauer Polizeisprecher Maciej Karczynski.

„Ich schäme mich für diese Leute“, kommentierte Sportministerin Joanna Mucha die Vorfälle, „das sind gewöhnlich Hooligans. Sie sollen uns nicht dieses Fest verderben.“ Schon Stunden vor dem Spiel hatten mehrere Dutzend Polen im Zentrum Warschaus mit rechtem Liedgut auf sich aufmerksam gemacht.

„In der Hauptstadt wurde das Sportfest zusammengeschlagen“, titelte das polnische Boulevardblatt „Fakt“ am Mittwoch. Die russische Zeitung „Sowjetski Sport“ schrieb vom „Krieg auf der Straße und Frieden auf dem Feld.“ Tatsächlich wurde die sportlich ansprechende Partie zwischen den Erzrivalen von den befürchteten Krawallen überlagert. Allein schon der Termin der Partie war sensibel. Die Russen feierten rund um das Spiel ihren Unabhängigkeitstag.

Mehrere tausend russische Fans marschierten in einem geschlossenen Block am Dienstagnachmittag Richtung Stadion. Kleine Hooligangruppen lauerten an der Wegstrecke den Russen auf, beschimpften sie und versuchten, durch das massive Polizeiaufgebot zu brechen. Auch Gruppen russischer Hooligans gelangten durch die Polizeiabsperrungen, um sich mit polnischen Gewalttätern zu prügeln. Die Polizei musste Wasserwerfer einsetzen.

Das Verhältnis beider Staaten ist historisch belastet. Bis heute halten sich Verschwörungstheorien über den Absturz der polnischen Präsidentenmaschine über dem russischen Smolensk am 10. April 2010. Etwa fünf Prozent der Polen sind von einem russischen Mordkomplott gegen Präsident Lech Kaczynski überzeugt.

Die Erschießung von rund 22 000 Polen im April 1940 in der westrussischen Region Katyn und weiteren Orten erschwert das bilaterale Verhältnis bereits seit Jahrzehnten. Angehörige der Ermordeten bemühen sich vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte um eine posthume Rehabilitierung. Moskau hatte sich erst 1990 zu der Verantwortung bekannt und wollte die EM eigentlich zu einer weiteren Entspannung in den Beziehungen nutzen.

Internationale Pressestimmen

POLEN

Rzeczpospolita: „Die Hoffnung ist zurück. Es war ein Fußballfest mit Schlägerei.“

Fakt: „Göttlicher Blaszczykowski! Wie macht er das?“

Super Express: „Adler hoch!!!“

onet.pl: „Tolles Tor von Blaszczykowski. Jetzt müssen wir gegen die Tschechen gewinnen.“

interia: „Die russische Walze wurde gestoppt.“

Przeglad Sportowy: „Wir sind immer noch im Spiel. Kuba rettete unsere Euro. Das Unentschieden ist ein gutes Ergebnis.“

Wyborcz: „Warschauer Kampf“

RUSSLAND

Lenta: „Die Aufgabe ist komplizierter geworden. Keine Mannschaft kann sich sicher fühlen, Russland darf im letzten Spiel nicht verlieren.“

Gazeta: „Es ist nicht so schlimm, Russland.“

Moskowski Komsomolez: „Ein heißer Abend in Warschau endete für Russland mit einem Unentschieden. Das Schicksal Russlands entscheidet sich beim dritten Spiel. Die russische Auswahl konnte den EM-Gastgeber nicht bezwingen, doch die Hauptsache ist: Wir haben nicht verloren. Es war ein schweres Treffen.“

Rossiijskaja Gazeta: „Wir konnten Polen nicht überwinden, doch das Unentschieden ließ uns die Tabellenführung. Vor dem Hintergrund dessen, was in Warschau geschah, bleibt der Fußball zumindest zeitweise außen vor. Eine anfangs friedliche Veranstaltung endete in wüsten Schlägereien.“

Sowjetski Sport: „Eine schwerer Weg. Die russische Auswahl hat sich das Weiterkommen durch das Unentschieden selbst schwer gemacht. Auf den Straßen Warschaus entwickelten sich Kampfhandlungen, und man war gespannt, was auf dem Spielfeld passieren würde. Krieg auf den Straßen und Frieden auf dem Spielfeld.“ (Tolstoj)

FRANKREICH

L'Equipe: „Polen wahrt seine Chance. Russland hinterlässt vier Tage nach der eindrucksvollen Vorstellung gegen die Tschechen nur einen mittelmäßigen Eindruck. Am Ende wurden sie vom Enthusiasmus der Polen fast erdrückt, die dabei manchmal aber auch etwas zu chaotisch waren.“

Mit Material von dpa, dapd und sid