Hamburg. Am Donnerstag wird entschieden, wer die EM 2024 austrägt. Ein Gespräch mit Recep Tayyip Erdogan über Fußball und Politik.
Favorit Deutschland oder doch die Türkei: Am Donnerstag entscheidet die Uefa, der europäische Fußballverband, wer die Europameisterschaft 2024 austragen darf. Zwei wichtige Punkte sprechen gegen eine EM am Bosporus: Im Evaluierungsbericht bemängelt die Uefa „die wirtschaftliche Lage“ und vermisst den geforderten „Aktionsplan für Menschenrechte“.
Der Kollaps der türkischen Lira ist offensichtlich: Seit Anfang des Jahres hat die Währung im Vergleich zum Dollar rund 40 Prozent verloren. Dinge des täglichen Bedarfs, Lebensmittel und Energie, werden für die einfache Bevölkerung teurer und teurer. Noch immer sitzen zudem fünf Deutsche „aus politischen Gründen“, wie es heißt, in türkischen Gefängnissen. Mehr als 200.000 Türken verloren mit derselben Begründung ihren Arbeitsplatz oder sind ebenfalls in Haft. „Jemand, der sein Land in ein offenes Gefängnis verwandelt, jemand, der das Land spaltet, ist kein guter Gastgeber“, sagte Grünen-Politiker Cem Özdemir, bevor der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan am Donnerstag von der UNO-Vollversammlung in New York zum Staatsbesuch nach Berlin fliegt. „Ich würde die Europameisterschaft der Türkei und den Fans gönnen, aber dem Regime nicht.“
Die Uefa hat mehrere Kritikpunkte
Die Uefa steckt in einer Klemme. Bewerbungen ihrer Mitgliedsverbände sind trotz Bedenken ernst zu nehmen. „Wir erwarten eine faire Beurteilung“, sagte Präsident Erdogan in einem Gespräch mit dem Hamburger Abendblatt in Istanbul. „Die Türkei erfüllt alle notwendigen Voraussetzungen für eine erfolgreiche Austragung.“ Vor seinem Abflug in die USA kündigte Erdogan am Flughafen öffentlich eine Entspannungspolitik gegenüber Deutschland an. Dazu gehört, dass er einen deutschen Sportreporter zum Gespräch in den Yildiz-Palast einlud. Die Themen: die EM-Kampagne sowie das umstrittene Foto mit Mesut Özil und Ilkay Gündogan vor der WM.
Zum Uefa-Bericht sagte Erdogan: „Die Gerüchte bezüglich der wirtschaftlichen Lage der Türkei entsprechen nicht der Wahrheit. Die bilateralen Beziehungen zu den USA und der damit verbundene Wechselkurs spiegeln die eigentliche wirtschaftliche Lage, die Kraft und das Potenzial der Türkei in keiner Weise wider.“ Und weiter: „Die Türkei ist hinsichtlich des Tourismus bereits ein sehr dynamisches und fruchtbares Land. Es sollte kein Zweifel darin bestehen, dass bei der Europameisterschaft die Stadien gefüllt sein und die Sponsoren- und Werbeeinnahmen steigen werden.“ Die EM 2024 soll in neun Städten unter dem Motto „Share Together“ (miteinander teilen) stattfinden. Erdogan rechnet mit einem Rekordergebnis von mehr als 800 Millionen Euro, sollte die EM 2024 in der Türkei stattfinden.
Die Konkurrenz aus Deutschland misst diesen Worten wenig Bedeutung bei. „Wir haben natürlich darauf aufmerksam gemacht, dass unsere Mitbewerber aus der Türkei so ziemlich alles garantieren, was nicht niet- und nagelfest ist“, sagte DFB-Präsident Reinhard Grindel im ZDF. Erdogan sieht das anders: „In nahezu allen Großstädten haben wir Sportkomplexe, Stadien und Sporthallen mit enormen Kapazitäten aufgebaut, die sogar oft in europäischen Ländern nicht existieren“, sagt er. „Sollte die Uefa eine objektive Beurteilung machen, so würde sie diese Tatsache auch sehen können.“
„Reporter ohne Grenzen“ kritisieren Türkei
Die Uefa kritisiert in ihrem Bericht auch die Infrastruktur in der Türkei, unter anderem würden 5000 Kilometer Schienen fehlen. Erdogan dazu: „Wir verfügen über 55 Flughäfen, Schnellzüge, eine gute Verkehrsinfrastruktur und Autobahnen und auch eine gute Mobilität innerhalb der Städte.“ Mehr als 40 Millionen Touristen kämen jedes Jahr von A nach B.
Dass die Türkei ein guter Gastgeber für eine Europameisterschaft sein kann, wird auch mit Blick auf die Lage der Journalisten im Land infrage gestellt. Laut „Reporter ohne Grenzen“ steht die Türkei bei der Pressefreiheit auf Platz 157 von 180 Ländern. Dazu Erdogan: „Es gibt eine freie Presse in der Türkei, denn eine Gesellschaft, die der Welt gegenüber offen ist, kann die Themen ihres Landes und der Menschheit verfolgen, sprechen, partizipieren und schreiben.“ Tatsächlich hat ausgerechnet Fußball-Verbandspräsident Yildrim Demirören die letzte unabhängige Mediengruppe Dogan Media (u. a. Tageszeitung Hürriyet und CNN Türk) übernommen, wie die Deutsche Presseagentur schreibt, und lässt internationale Fußballstars der ersten türkischen Liga, Samuel Eto’o und Robinho, für die EM-Bewerbung trommeln. Dreimal scheiterte eine EM-Kampagne der Türkei schon. „Jetzt sind wir dran!“, so Demirören.
Den Wunsch formulierte Erdogan im Gespräch mit dem Hamburger Abendblatt so: „Deutschland hat 1974, 1988 und 2006, also mit drei großen Welt- und Europameisterschaften, weltweit Sportfans schöne Veranstaltungen angeboten. Ich denke, dass auch ein fussballbegeistertes Land wie die Türkei, das alle Voraussetzungen für eine Austragung erfüllt, diese Möglichkeit erhalten sollte.“
Özil und Erdogan sind sich schon öfter begegnet
Bundeskanzlerin Angela Merkel wird Erdogan am Freitag treffen, dann ist die Entscheidung über den Austragungsort der EM 2024 gefallen. Ein Gespräch über Fußball sei zwischen ihm und Merkel zwar nicht geplant, so der türkische Präsident. „Aber wenn sie Mesut Özil und Ilkay Gündogan anspricht, dann würde ich auch über Fußball mit ihr reden“, so Erdogan weiter. „Ich amüsiere mich sehr mit Menschen, die sich für Fußball interessieren.“
Während des WM-Sommers waren die beiden deutschen Nationalspieler für das gemeinsame Foto mit Erdogan kritisiert worden. „Es gibt nichts zu bedauern“, sagt Erdogan. „Wie Sie wissen, hat sich Lothar Matthäus mit Wladimir Putin getroffen. Unsere Spieler sollten auch in der Lage sein, mit freiem Gewissen handeln zu können. Ich bedaure die Personen, die das kritisieren.“ Erdogan sagte, dass das Treffen in London nicht seine erste Begegnung mit Mesut Özil gewesen sei. „Wir sind uns viele Male bei verschiedenen Gelegenheiten begegnet. Ebenso treffen wir uns mit türkischstämmigen Bürgern in verschiedenen Ländern. Mesut ist jemand, der in London lebt. Warum soll ich ihn nicht treffen, wenn ich schon da bin?“
Provozierend stellte er die Gegenfrage: „Sollten wir, wenn ein deutscher Fußballspieler, der in unserem Land spielt, ein Foto mit Frau Merkel macht, ihn dann lynchen? Diese Logik ist nicht nachzuvollziehen.“ Özil und Gündogan könnten sich „beiden Ländern zugehörig fühlen. Dem Land, in dem sie geboren sind, und dem Land, aus dem ihre Eltern kommen.“
Türkei und Deutschland gemeinsam gegen Rassismus
Dass Özil und Gündogan womöglich aus Karrieregründen für Deutschland spielen und nicht für die Türkei, sähe er ihnen nach: „Wir sind stolz auf unsere in Deutschland lebenden Mitbürger.“ Die Türkei sei zwar ihr Heimatland. „Aber sie leben in Deutschland und werden sich selbstverständlich für den Erfolg von Deutschland bemühen. Dass sie für Deutschland spielen, ist ihre Privatsache.“ Erdogan weiter: „In der Tat sagte Mesut Özil: ‚Ich spiele für Deutschland, aber trage die Türkei in meinem Herzen.‘ Dem polnischen Fußballer Podolski stellte man in der Vergangenheit dieselbe Frage, worauf er antwortete: ‚Ich trage zwei Herzen in meiner Brust.‘ Ich finde das nicht richtig zu versuchen, die Bindung des Herzens zu verhindern.“
Erdogan beteuerte: „Als Türkei fördern und ermutigen wir unsere in Deutschland lebenden Mitbürger zur Partizipation in jeder Ebene der Gesellschaft.“ Und bezogen auf die DFB-Karriere türkischstämmiger Spieler: „Wir haben weder Bedenken noch ein Problem damit. Im Gegenteil, wir freuen uns mit ihnen. Sie sind ein Vorbild für die türkische Jugend. Ihr Erfolg ist auch unser Erfolg.“
Im Gespräch mit dem Abendblatt ging Erdogan auch auf sein Telefonat mit Özil und dessen Rücktrittserklärung ein, in der der Nationalspieler Rassismus-Vorwürfe anführte. „Er hat die deutsche Nationalmannschaft nicht grundlos verlassen. Jeder andere, der mit diesen rassistischen Attacken und Beleidigungen zu kämpfen hätte, würde dieselbe Reaktion zeigen.“ Erdogan wörtlich: „Mesut Özils Aussage ‚Deutscher, wenn ich gewinne, aber Immigrant, wenn ich verliere‘, fasst die Diskriminierung von Spielern in Deutschland sehr gut zusammen. Der Nationalspieler Boateng hatte jüngst ähnliche Diskussionen über allerlei Rassismus entfacht. Wir müssen gemeinsam Hand in Hand gegen Rassismus kämpfen.“
DFB-Präsident Grindel hatte die Rassismus-Vorwürfe energisch zurückgewiesen.