Zwei Jahre nach seinem Tiefpunkt als Nationaltrainer kehrt Joachim Löw an die Stätte seiner größten Niederlage zurück
Warschau. Polens Hauptstadt Warschau zeigte sich am Freitagmittag von ihrer schönsten Seite, als die deutsche Fußball-Nationalmannschaft pünktlich um 12.25 Uhr auf dem Flughafen Chopin landete. Blauer Himmel, Sonne und sommerliche Temperaturen um die 22 Grad – es hatte fast den Anschein, als ob sich die malerische Millionenmetropole an der Weichsel vor dem EM-Qualifikationsspiel an diesem Sonnabend im Nationalstadion Kazimierz Gorski (20.45 Uhr/RTL und im Liveticker bei abendblatt.de) auf charmante Art und Weise beim DFB für etwas entschuldigen wollte, das gut zwei Jahre zurückliegt und doch vor einer gefühlten Ewigkeit gewesen sein muss.
„Ach, daran habe ich eigentlich gar nicht mehr gedacht“, beantwortete Nationaltrainer Joachim Löw zunächst etwas ausweichend die Frage nach seinen Gedanken an die Rückkehr in das Stadion, in dem Deutschland vor knapp 28 Monaten die wahrscheinlich bitterste Niederlage seiner Amtszeit hatte erleben müssen. Mit 1:2 hatte die DFB-Auswahl am 28. Juni das EM-Halbfinale 2012 gegen Italien verloren. Und trotz der dritten Halbfinalteilnahme in Folge bei einem großen Turnier, da war sich ganz Deutschland später einig, war es Löws Tiefpunkt als Nationaltrainer. „Selbstverständlich war die Niederlage damals sehr enttäuschend. Ich muss auch zugeben, dass sie Nachwirkungen hatte. Man darf ein Halbfinale verlieren, aber die Art und Weise, wie wir verloren haben, war frustrierend“, gab Löw im luxuriösen Mannschaftshotel Westin mitten im Stadtzentrum zu, um aber umgehend positiv nach vorne und sogar ein bisschen zurückzuschauen: „Im Nachhinein kann man auch aus solchen Niederlagen Energie und Kraft ziehen. Vielleicht haben wir sogar bei der WM in Brasilien von den Nachwirkungen dieser bitteren Niederlage profitiert.“
Tatsächlich erinnert gut zwei Jahre nach der Pleite von Warschau, die binnen 90 Minuten aus „Super-Jogi“ („Bild“) den Deppen der Nation machte, nur noch wenig bis gar nichts an das frustrierende Erlebnis. Löw, dem damals taktische Fehlentscheidungen vorgeworfen wurden und der auch selbst Fehler zugab, wird nach dem Triumph in Rio de Janeiro längst wieder als „Super-Jogi“ gefeiert. Und aus der Anfangself, die gegen Italien auflief, dürften am Sonnabend mit Manuel Neuer, Jerome Boateng, Mats Hummels, Toni Kroos und Lukas Podolski gerade mal fünf Profis übrig sein, die nun gegen Polen starten sollen. Doch mehr als die personelle Besetzung scheinen sich das Selbstverständnis und das Selbstbewusstsein der Deutschen mit dem WM-Titel gewandelt zu haben. „Natürlich hatte die Niederlage lange an uns genagt“, sagte DFB-Manager Oliver Bierhoff, „aber den Ballast haben wir abgeworfen, als wir Weltmeister geworden sind.“
Den Fehler, als Weltmeister Gastgeber Polen zu unterschätzen, will niemand riskieren. Insbesondere nicht, weil die beiden Duelle gegen Polen und Irland (Di, 20.45 Uhr in Gelsenkirchen) als Schlüsselspiele in der Qualifikationsrunde für die Europameisterschaft 2016 in Frankreich gelten. „Ich fühle, dass uns ein ganz heißes Spiel erwartet“, so Löw. „Die Polen wollen nicht den Weltmeister feiern, sondern den ersten Sieg gegen Deutschland.“
Dabei ist die Statistik eindeutig. Von 18 Duellen konnten die Deutschen zwölf gewinnen, sechs Spiele endeten remis, auf einen Sieg warten die Polen bislang vergeblich. Diese weiße Weste will Löw trotz großer Verletzungssorgen unbedingt behalten. Mit Bastian Schweinsteiger (Probleme mit der Patellasehne), Sami Khedira (Muskelbündelriss) und Mesut Özil (Außenbandanriss im Knie) fehlt dem Bundestrainer zwar die gesamte Mittelfeldzentrale, die Weltmeister Kroos, Christoph Kramer und Thomas Müller sind aber mehr als nur Ersatz. „Ich bin sehr optimistisch, dass wir das gut hinbekommen. Besonders Toni Kroos hat riesige Fortschritte gemacht“, lobte Löw.
Es dürfte kein Zufall gewesen sein, dass der Nationaltrainer ausgerechnet Kroos dieses Sonderlob gewährte. Schließlich war es der Neu-Madrilene, der im EM-Halbfinale überraschend in die Startelf rotierte, Italiens Maestro Andrea Pirlo manndecken sollte und nach dessen ungehinderten Geniestreichen als Sündenbock herhalten musste. Es ist eine dieser im Sport immer wieder vorkommenden Geschichten, dass mit Kroos und Löw die mutmaßlichen Hauptverantwortlichen des EM-Aus nun als die Protagonisten des WM-Titels gefeiert wurden. „Ich will nicht von Genugtuung sprechen, aber von Befriedigung oder Bestätigung“, sagte Löw und erklärte: „Wir haben immer an unserem Weg festgehalten. Er ist nun im Sommer gekrönt worden.“