Mit dem 7:1-Sieg über Brasilien hat Deutschland Fußball-Historie geschrieben. Doch in die Geschichte eingehen wird das Löw-Team nur als Weltmeister
Belo Horizonte/Santo André. Nicht mal 20 Minuten nach dem Schlusspfiff am Dienstag hatte sich Joachim Löw verwandelt. Optisch, aber auch emotional. Der Bundestrainer hatte sein dunkelblaues, verschwitztes Hemd gegen ein hellblaues, frisches Hemd getauscht. Löw, der noch direkt nach dem Halbfinalsieg gegen Brasilien wie ein aufgescheuchtes Huhn im Estádio Mineirão von einem zum anderen Spieler gelaufen war, saß nun ganz ruhig auf seinem erhöhten Podestplatz und lauschte über Kopfhörer den Fragen des Übersetzers. Mehr als 100 internationale Pressevertreter hatten vor ihm Platz genommen und wollten eigentlich nur eines von ihm wissen: Wie kann man das Unerklärliche erklären?
7:1! Sieben zu eins!! Deutschland hatte nicht nur gegen Brasilien gewonnen. Deutschland hatte soeben den einstigen WM-Favoriten und Gastgeber in sämtliche Einzelteile zerlegt. Es war nach der 0:3-Finalpleite gegen Frankreich 1998 die höchste WM-Niederlage einer Seleção aller Zeiten. Natürlich.
Überhaupt hatte eine Nationalmannschaft noch nie ein derart hohes Ergebnis in einem Halbfinale einer Weltmeisterschaft erzielt. Wobei: Immerhin 6:1 gewann Deutschland in der Vorschlussrunde 1954 gegen Österreich – und wurde anschließend Weltmeister.
Die Superlative wollten am späten Dienstag aber einfach nicht aufhören. So durfte sich Thomas Müller wie schon 2010 über seinen fünften Turniertreffer freuen. Und Miroslav Klose hatte ganz nebenbei eine neue Bestmarke in der ewigen WM-Torschützenliste aufgestellt. 16 WM-Treffer. Ein Tor mehr als das brasilianische Fenomeno Ronaldo.
„Miro ackert seit... wie alt ist er? 56?“, witzelte sein Offensivpartner Müller. „Nein, 36. Er ackert mindestens seit 16 Jahren unermüdlich, er ist ein Supertyp und hat sich diesen Rekord verdient.“ Und dieser Supertyp? „Natürlich ist es ein tolles Gefühl, da oben jetzt allein zu sein“, kommentierte der passionierte Angler Klose seinen Rekord genauso tiefenentspannt, wie es wohl nur ein in sich ruhender Angler kommentieren könnte. Es war ein Rekord für die Ewigkeit, der allerdings aufgrund der Konfiguration dieser Nacht in Belo Horizonte unterzugehen drohte.
Denn Klose hin, Müller her: alles in allem, da waren sich alle Beobachter dieser herausragenden und unvergesslichen 90 Minuten einig, war es ein fußballhistorischer Abend. Und Löw? Der Fußballlehrer dieser einzigartigen Geschichtsstunde referierte nüchtern von „einem guten Gefühl“, von „Ausdauer, Ruhe und Klarheit.“ Es klang fast so, als ob Deutschlands Nationaltrainer von einem wöchentlichen Saunadurchgang sprach. Oder von einem guten Glas Wein. Auf keinen Fall aber von dem wahrscheinlich beeindruckensten Fußballspiel aller Zeiten einer deutschen Nationalmannschaft.
„Wir müssen ein bisschen Demut zeigen und Ruhe bewahren“, sagte der 54 Jahre alte Badener , „die Freude ist nicht ganz so überschwänglich.“
Doch vor allem die brasilianischen Journalisten konnten und wollten direkt nach Felipe Scolaris emotionalem Kurzauftritt („Das war die schlimmste Niederlage aller Zeiten“) Löws Ratio nach dieser Partie so nicht akzeptieren. Ob es kein Spiel für die Geschichtsbücher gewesen sei? Ein niemals zu vergessener Abend? Was für eine Bedeutung das gerade Geschehene im Kontext der 54-74-90-Ereignisse habe? Löw griff nach einer Flasche Wasser, nahm einen Schluck und sagte dann ganz ruhig: „Es ist wichtig, dass wir uns erholen und konzentriert bleiben.“
Löws Strategie nach dem Halbfinale war mindestens genauso klar und eindeutig wie sein Matchplan zuvor gegen Gastgeber Brasilien. Doch anders als beim Spiel war seine Taktik danach durchschaubar. Deutschland hatte tatsächlich gerade Geschichte geschrieben. Doch um wirklich Historisches zu leisten, dürfe sein Team unter keinen Umständen vor dem Endspiel abheben. „Diese Mannschaft ist nun unbedingt bereit, dieses Finale zu gewinnen“, sagte Löw. Frei nach Sepp Herberger: Nach dem Triumph ist vor dem Triumph.
In der Vorbereitung auf die WM war die Stimmung im Keller
Löws sachliche, aber bestimmte Gewissheit hatte einen Grund: Obwohl Deutschland nur wenige Minuten zuvor das beste WM-Spiel aller Zeiten gemacht hatte, ließ sich auch kein einziger Spieler dazu hinreißen, zumindest ein klein wenig abzuheben. In den Katakomben von Belo Horizontes Estádio Mineirão kam zeitgleich zur löwschen Sachanalyse einer nach dem anderen aus der Kabine und sprach unaufgeregt von „gedämpfter Freude“ (Mats Hummels), einer „guten Basis in der Defensive“ (Philipp Lahm) und „einem ganz schweren Finale“ (Toni Kroos), das auf die Mannschaft warten würde.
„Mich persönlich interessiert das nicht, ob wir Geschichte geschrieben haben“, sagte Jerome Boateng in einer so gleichgültigen Tonart, dass man dem Abwehrmann am liebsten mal geschüttelt und ihm die nackten Daten und Fakten zugerufen hätte: Deutschland 7, Brasilien 1. So stand es auch auf dem Flachbildschirm in der Mixedzone, vor dem sich der eine oder andere deutsche Journalist als Erinnerung fotografieren ließ, während die brasilianischen Medienvertreter ihnen mit echter Hochachtung gratulierten. So, als ob auch sie zu diesem epochalen Fußballereignis beigetragen hätten.
Hatten sie aber natürlich nicht. Ganz im Gegenteil. Denn obwohl Deutschland schon vor dieser WM zu den Favoriten zählte, war das kolportierte Formbarometer ziemlich negativ. Großkreutz’ Pipi-Gate, Löws Führerscheinentzug, der schwere Unfall bei einem Sponsorentermin. Die Stimmung vor der WM schien in etwa so mies wie das Wetter in Deutschland während des Halbfinales: Gewitterwolken waren aufgezogen. Auch das Abendblatt hatte noch vor dem ersten Auftritt des Nationalteams gegen Portugal in Salvador getitelt: „Löws letzte Chance“.
Sechs Partien später kann festgehalten werden: War es tatsächlich Löws letzte Chance, dann hat Deutschlands Fußball-Staatsoberhaupt diese fulminant genutzt. Mit 4:0 wurde Portugal aus dem Stadion geschossen. Ein 2:2-Ausrutscher gegen Ghana, ein souveränes 1:0 gegen die USA, ein glückliches 2:1 nach Verlängerung gegen Algerien und das verdiente 1:0 gegen Frankreich. Und jetzt noch das. 7:1 gegen die brasilianischen Ballkünstler. „Ohne Worte!“, titelte die ebenfalls zuvor sehr kritische „Bild“-Zeitung, und zeigte auf den folgenden fünf Startseiten alle Tore in großen Fotos.
„Normalerweise müsste man sich nach einem 7:1 riesig freuen, aber bei uns war alles gedämpft. Mehr als abklatschen und sich bei den Fans bedanken ist heute nicht drin“, sagte Abwehrass Mats Hummels und erinnerte im löwschen Duktus an das übergeordnete Ziel dieses Brasilientrips: „Sonntag steht eine noch größere Aufgabe bevor.“ Auch Toni Kroos betonte, dass man in Brasilien sei, um Weltmeister zu werden. „Und Weltmeister wird man nicht im Halbfinale.“
Torjäger Thomas Müller brachte es mit der von ihm gewohnten Pointe zum Schluss auf den Punkt: „Um es humorlos darzustellen und die Fakten auf den Tisch zu bringen: Wir sind eine Runde weiter, genauso wie gegen Algerien. Der Sieg hat uns nicht mehr gebracht, als eine Runde weiterzukommen.“ Dann schaute Müller verschmitzt in die Runde und ergänzte: „Naja, eine Runde weiterzukommen – und einen Antrag zur Aufnahme in die Geschichtsbücher.“
Also doch. Bei allem forcierten Realismus war Spielern und Verantwortlichen, die sehr für ihren zurückhaltenden Jubel gelobt wurden, das Ausmaß dieses Triumphes klar. Löws 111. Spiel als Cheftrainer war nicht nur einen numerischen Schnaps wert. Mit nun mehr 76 Siegen hat der auch laut Statistik beste Bundestrainer der Geschichte nicht nur weit mehr Erfolge als seine drei Vorgänger (Jürgen Klinsmann, Rudi Völler und Erich Ribbeck) zusammen gefeiert. Er hat vor allem das Lieblingsspiel der Deutschen revolutioniert – und das alles so, ohne dass es die Deutschen richtig gemerkt hätten. „Man müsste Joachim Löw für die Verdienste um sein Land auf Knien danken“, schlug der „Spiegel“ diese Woche etwas devot vor, „aber seltsamerweise wird der Mann in seiner Heimat nicht geliebt und nicht verstanden.“
Nur eines dürfte sich nach dem 7:1 mit Sicherheit nicht ändern: Besser verstanden wird Löw nach diesem nicht zu verstehenden Fußballkunstwerk kaum.