Die Stimmung im deutschen Lager ist deutlich besser als noch bei der EM 2012. Und das soll auch so bleiben – möglichst bis zum Finale
Santo André. Manchmal ist es durchaus einen aufmerksamen Blick wert, was nicht vor einem Tor, sondern nach einem Treffer passiert. Zum Beispiel nach Arjen Robbens Traumtor zum 5:1 gegen Spanien. Nach seinem 50-Meter-Sprint über das halbe Feld hatte der Münchner noch immer genug Luft, um im höchsten Tempo einen Kameramann an der Eckfahne zu finden, der seine Küsse und ein bisschen Posing in die Heimat übertrug. Der Rest der Niederländer klatschte brav im Hintergrund ab. Eine ganz andere Szenerie spielte sich dagegen nach Mats Hummels Kopfballtorpedo zum zwischenzeitlichen 2:0 gegen Portugal ab. Der Dortmunder sprintete im Robben-Tempo ebenfalls über den halben Platz – allerdings zur Seitenlinie, wo er im Jubelknäuel mit allen 23 Spielern sowie den Betreuern und Trainern gemeinsam feierte.
Wenn es wirklich stimmt, dass Kleinigkeiten über das Wohl und Wehe bei einer Weltmeisterschaft entscheiden, dann hat Deutschland die im ersten Spiel ebenso triumphierenden Niederländer bereits vor einem möglichen Aufeinandertreffen geschlagen.
„Unser Teamgeist ist wirklich hervorragend“, stellte Bundestrainer Joachim Löw schon vor Hummels’ Jubellauf fest, „es ist eine besondere Freude, das zu sehen.“ Anders als noch vor zwei Jahren, als nach der EM in Polen und in der Ukraine immer wieder der fehlende Teamgeist angedeutet wurde, herrsche diesmal eine „richtig gute Stimmung“, so Löw: „Aus Vereinsinteressen werden nationale Interessen.“
Tatsächlich ist es auffällig, dass die Spieler nicht erst nach dem Auftaktsieg den offenbar geschärften Teamspirit oft und gerne hervorheben. So berichtete etwa Per Mertesacker in der „Frankfurter Rundschau“ von der außergewöhnlichen Stimmung im Campo Bahia, das beim Prozess der Mannschaftsfindung eine wichtige Rolle spiele: „Es ist relativ eng, alle sind irgendwie beieinander im Fußmarsch von nur 50 Metern; es herrscht eine gute Atmosphäre und reger Verkehr zwischen den Häusern.“ So war es sogar der Wunsch der Spieler, dass die WM-WGs vereinsübergreifend gemischt werden. BVB-Ultra Kevin Großkreutz teilt sich nun einen Bungalow mit Schalkes Julian Draxler, der Münchner Toni Kroos ist in einer Wohngemeinschaft mit Dortmunds Roman Weidenfeller.
Sämtliche WM-Partien werden selbstverständlich gemeinsam geschaut. Und natürlich nahm auch die Bayern-BVB-Schafskopfrunde mit Philipp Lahm, Thomas Müller, Mats Hummels und Manuel Neuer ihren Betrieb auf. „Man merkt, dass ein guter Spirit da ist“, sagt Mertesacker, „aber der wird nun natürlich auf die Probe gestellt. Wie gut er tatsächlich ist, merkt man erst, wenn Entscheidungen getroffen worden sind, die dem einen oder anderen wehtun.“
Gegen Portugal reichten die Ersatzspieler Wasserflaschen, es wurde gemeinsam gezittert und gejubelt. Doch was passiert, wenn arrivierte Nationalspieler wie Miroslav Klose über den Status des Wasserflaschen-Zuwerfers nicht hinauskommen? Und was passiert, wenn plötzlich ein Neuling wie Shkodran Mustafi zum entscheidenden Mann in Löws Abwehr wird, ehemalige Stammkräfte wie Bastian Schweinsteiger aber nicht mal beim Stand von 4:0 eingewechselt werden? Ausgerechnet Schweinsteiger war es, der den fehlenden Spirit bei der EM-Mannschaft öffentlich gemacht hatte. Bei seinem FC Bayern würde die ganze Ersatzbank bei einem Treffer vor Freude aufspringen, sagte er der „Süddeutschen Zeitung“ direkt nach der EM 2012, „das ist vielleicht ein kleiner Unterschied zur Nationalmannschaft bei der EM.“ Es war nur ein Satz. Doch dieser eine Satz hatte Sprengkraft. Und: Es war kein dahingeredeter Satz. Bei der üblichen Autorisierung bestand der Münchner sogar darauf, dass die kritischen Worte nicht gestrichen wurden. Schweinsteiger wollte diesen Satz sagen, er wollte, dass Fußball-Deutschland den Satz vernahm. Und Fußball-Deutschland gab ihm recht. „Wenn ein erfahrener Profi, der Vizekapitän und Führungsspieler ist, so etwas sagt, dann sollte jeder Spieler mit den Ohren schlackern“, sagte Nationalmannschaftskapitän Philipp Lahm, „dann sollte man sich fragen: Hoppla, was meint er da? Hat er vielleicht recht?“
Wahrscheinlich hatte Schweinsteiger recht. Und wahrscheinlich ist das der Grund, warum auch DFB-Manager Oliver Bierhoff nichts unversucht lässt, bei dieser WM einen ganz neuen Mannschaftsgeist zu kreieren. Die Wohngemeinschaft mit Fünfer- und Sechser-WGs war seine Idee, genauso wie das Teambuilding in der ersten WM-Woche mit dem Abenteurer Mike Horn. Auf einer Segelyacht wurde gemeinsam getrimmt, der Winkel des Segels wurde bestimmt und der entsprechende Kurs vorgeben.
Auch Bastian Schweinsteiger ist auf einem Video zu sehen, das auf dem Segelschiff aufgenommen wurde. Der Münchner lacht, er albert mit Lukas Podolski herum, und er packt mit an. Auf der Yacht. Aber auch in Salvadors Arena Fonte Nova, wo er bei fast allen vier Toren einer der ersten Gratulanten war. Es sind diese Details, die letztlich entscheidend seien, sagt Mertesacker, der bei der EM 2012 selbst nicht über die Rolle des Edel-Bankdrückers herausgekommen war. „Es geht dann auch darum: Wie lebt die Bank? Freut sie sich über Tore? Unterstützt sie die anderen Spieler vor dem Spiel und in der Halbzeit?“, fragt Mertesacker. Auch der baumlange Abwehrrecke ist auf dem Segel-Video zu sehen. Er übernimmt das Steuer.
Über den gemeinsamen WM-Kurs gibt es ohnehin keine Unstimmigkeiten. Gelingt es tatsächlich, alle Egoismen für die Zeit in Brasilien hintenanzustellen, und fühlen sich die mutmaßlichen Ersatzspieler auch nach sechs Spielen auf der Bank noch integriert, dann wäre bei dieser WM wohl Großes möglich.
Und wenn nicht? Dann nicht!