Vor dem Spiel gegen Portugal ist der Weg zum Flughafen von Porto Seguro für die deutschen Nationalspieler die einzige Möglichkeit, ein bisschen von Land und Leuten mitzubekommen. Das Abendblatt hat sich die Strecke vorab schon einmal angesehen
Der Flughafen von Porto Seguro, das Campo Bahia, ein kurzer Besuch in der Dorfschule Santo Andrés und der Trainingsplatz – viel mehr haben die deutschen Nationalspieler in ihrer ersten WM-Woche von Brasilien noch nicht gesehen. Einen rudimentären Eindruck von Land und Leuten können Poldi, Schweini und Co lediglich bei den Fahrten zwischen Teamhotel und Flughafen erhaschen, wenn sie ein bisschen brasilianische Realität aus dem Busfenster bestaunen dürfen. An diesem Sonnabend ist es erstmals soweit: Um 19 Uhr ist Abfahrt vor dem ersten Gruppenspiel gegen Portugal in Salvador (Mo., 18 Uhr, MEZ/live in der ARD), die Fahrt zum Flughafen soll eine Stunde dauern. Schade, dass die Fußballer nicht ein wenig mehr Zeit haben. Denn auf der knapp 32 Kilometer langen Strecke gibt es so einiges zu entdecken.
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Nach 800 Metern: Der 100-Jährige, der aus dem Fenster winkt
Einmal links abbiegen, einmal rechts abbiegen. Ein paar Meter durch Santo André fahren – dann kann man das Hinweisschild am Straßenrand kurz vor dem Ortsende gar nicht mehr übersehen: „Langsam fahren! Hier wohnt ein 100-Jähriger“, steht da geschrieben.
Enoch Borges Santana, das kann man guten Gewissens behaupten, hat schon so einiges hier in Santo André erlebt. Doch so einen Rummel wie in diesen Tagen hat auch der mit 100 Jahren älteste Einwohner des 800-Seelen-Dörfchens noch nicht gesehen. Seit 1935 wohnt Senhor Enoch im gleichen Haus, hat hier gemeinsam mit Ehefrau Ana-Rita neun Kinder groß gezogen. Doch seit Dona Ana-Rita vor zwei Jahren gestorben ist, fühlt sich Senhor Enoch fast ein wenig einsam – zum Glück wohnen von den 45 Enkeln und 30 Urenkeln die meisten noch in Santo André.
Auch Enkelin Daniela, 22, die als Kellnerin im Campo Bahia arbeitet, kommt fast jeden Tag vorbei und erzählt ihrem Opa ein wenig von den berühmten Fußballgästen aus Europa. „Es ist schön, dass die Deutschen hier sind“, sagt Senhor Enoch, „aber Weltmeister werden die Brasilianer.“ Ob er sich das auch gewünscht hat, als er am 23. Oktober des vergangenen Jahres einen Geburtstagswunsch frei hatte, will er aber nicht verraten. 100 Kerzen seien auf seinem Kuchen gewesen, erzählt der noch immer sehr fidele Mann stolz, „aber Gott sei Dank musste ich nur eine auspusten“.
Nach 3,3 Kilometern: Kapitän ohne Binde, aber mit Leitwolfpotenzial
Vorbei an Senhor Enochs Häuschen muss der DFB-Tross nur noch geradeaus weiterfahren, dann ist de Fähranleger gar nicht zu verfehlen. Hier pendeln tagsüber alle 30 Minuten drei Fähren auf dem João de Tiba zwischen Santo André und Santa Cruz de Cabrália, nach 18 Uhr muss man als Normalbürger bis zu einer Stunde warten. Die DFB-Reisegruppe muss natürlich nie warten – dafür sorgt Kapitän Manoel. Der 43 Jahre alte Brasilianer hat zwar keine Binde, aber das Sagen hat der Fußballfan auf seiner Autofähre natürlich trotzdem. Seit 15 Jahren pendelt Manoel zwischen Santo André und seinem 15 Minuten entfernten Wohnort Santa Cruz de Cabrália hin und her. Und auch zu Hause ist Manoel bei vier Söhnen der Leitwolf. Einen deutschen Spieler kannte er vor der WM zwar noch nicht. Aber bei all den Fahrten bis zum Finale sei ja genug Zeit, um sich ein wenig kennenzulernen, sagt Manoel.
Nach 6,6 Kilometern: Beistand vom Fußballgott in der Igreja Nossa Senhora
Von Fußball habe sie überhaupt keine Ahnung, sagt Núbia Marques Zeladora, aber auf göttlichen Beistand dürften die deutschen Nationalspieler trotzdem hoffen. Die Igreja Nossa Senhora de Conceição, die auf der anderen Seite des João de Tiba nur ein paar Meter vom Fähranleger entfernt über Santa Cruz de Cabrália thront, stehe den Fußballern jedenfalls immer offen, sagt die Küsterin der Dorfkirche.
Ob einige der katholischen Nationalspieler wie Jérôme Boateng, Lukas Podolski oder Miroslav Klose, der früher sogar Messdiener war, für einen Besuch Zeit haben werden, scheint aber fraglich. Dabei hat Núbias weiß-blaues Gotteshaus sogar historische Bedeutung. Denn dort, wo seit dem 17. Jahrhundert die Kirche steht, soll am 26. April 1500 die erste Messe auf brasilianischem Boden gefeiert worden sein.
„Jeden Sonntag haben wir um 6 Uhr morgens Gottesdienst“, sagt Núbia, die seit acht Monaten als Küsterin arbeitet, „da ist doch noch kein Training.“
Nach 15 Kilometern: Pataxó hoffen auf ersten indianischen Nationalspieler
Weiter auf der BR 367 passieren die Nationalspieler schon bald die Ortschaft Coroa Vermelha. 5000 Indios der Pataxó leben in dieser größten urbanen Indianer-Siedlung Brasiliens, darunter auch Clarivaldo Ajúrú. Der 35 Jahre alte Pataxó ist Lehrer an der Schule von Coroa Vermelha, wo die 800 Schüler neben gewöhnlichen Fächern wie Mathe, Bio oder Geschichte auch die Sprache ihrer Vorväter lernen. „Portugiesisch ist unsere Hauptsprache, Pataxó unsere Zweitsprache“, sagt Ajúrú, der diese Reihenfolge aber gerne umkehren würde.
„Ich finde es wichtig, dass unsere Kultur, unsere Sprache und unsere Lebensweise nicht langsam aussterben“, sagt der dreifache Familienvater, „die Regierung hilft uns wenig, deswegen müssen wir uns selbst helfen.“ Von den Gerüchten, dass auch die Indios vom Reserva Pataxó Coroa Vermelha die WM zu Protesten nutzen wollen, um auf ihre Lage aufmerksam zu machen, hat er aber nichts gehört. „In den Zeitungen stand ja, dass wir sogar den Bus der Deutschen aufhalten wollen. Das stimmt nicht, sie sind herzlich willkommen.“
Beide Daumen wird Ajúrú aber für Brasilien drücken. „Eigentlich sind wir ja die Ur-Brasilianer, deswegen werden wir natürlich für unser Land sein“, sagt er. Nur eine Sache ärgert ihn: „Noch nie hat ein Indio in der Seleção gespielt, dafür wird es mal Zeit.“
Nach 22,8 Kilometern: Halligalli, Neymar und Romário im Axé Moi
Immer am Wasser entlang fährt man ein paar Minuten später auf der rechten Seite am Resort La Torre vorbei, dem Hotel der Schweizer Nationalmannschaft. Neben HSV-Abwehrmann Johan Djourou sind hier auch die Frauen der deutschen Nationalspieler untergebracht. Fast schon in Porto Seguro lockt der Vergnügungstempel Axé Moi. „Bevor die Spieler Lagerkoller bekommen, sollten sie mal bei uns vorbeischauen“, sagt Manager Oswaldo. Auf 20.000 Quadratmetern direkt am Strand gibt es so ziemlich alles, was Touristen sonst auch am Ballermann auf Mallorca suchen: billiges Essen, ausreichend Alkohol und ganz viel Party. Nur Jürgen Drews sucht man hier vergeblich.
Shows von morgens bis spätabends werden den Touristen aber natürlich trotzdem geboten. Die Stars in dem Party-Areal heißen Xava, Rafael Campelo, Ralado und Aysha Pink. „Natürlich zeigen wir auch alle WM-Spiele“, sagt Manager Oswaldo, der besonders stolz auf die übergroßen Nationalspielerfiguren der Seleção gleich am Eingang ist. Über Geschmack lässt sich ja bekanntermaßen streiten ...
Nach 31 Kilometern: Noch ist ein Bett frei für Löw in der Pousada Nascente
Nur einen Kilometer vom Flughafen entfernt müssen Jogis Jungs nur noch an der Pousada Nascente vorbei, die gleich zwei Vorteile bietet: den kürzesten Weg zum Flughafen – und den schönsten Ausblick über Porto Seguro.
„Ein paar Betten hätten wir noch frei, wenn die Nationalmannschaft mal spät von ihren Spielen zurückkommen sollte“, sagt Pousada-Chefin Ismênia Marinho. Den Großteil ihrer Zimmer hat sie an Fans und Journalisten vermietet – von der deutschen und der schweizerischen Nationalmannschaft.
Seit zwei Jahren arbeitet Marinho, die ursprünglich aus Paraíba im Norden stammt, in der Flughafen-Herberge. „Eigentlich ist in dieser Gegend selten viel los. Am meisten Rummel ist hier, wenn ganz Bahia am 24. Juni das Volksfest São João feiert“, sagt die Brasilianerin. Sie erhofft sich einen Aufschwung der ganzen Gegend durch die WM: „Für unseren Tourismus wäre es toll, wenn auch nach der WM ein paar Deutsche kommen würden.“ Schade sei nur, dass sie die Nationalspieler nie zu Gesicht bekomme, obwohl sie doch vor jedem Spiel direkt an ihrem Haus vorbeidüsen werden: „Sollten die Fußballer aber doch mal aussteigen wollen, dann sind sie bei mir herzlich willkommen!“