Der Ausfall von Marco Reus war der Tiefpunkt einer Vorbereitung voller Rückschläge. Nach der Ankunft in Brasilien soll nun alles besser werden
Santo André. Der Moment, auf den ganz Santo André seit Wochen gewartet hat, dauerte 115 Sekunden. Von neun Polizeimotorrädern und vier Jeeps der Militärpolizei begleitet, rumpelten die drei Kleinbusse mit den deutschen Nationalspielern am frühen Sonntagmorgen von der Fähre. Thomas Müller, schon ganz Brasilianer, hob den Daumen, Lukas Podolski und Miroslav Klose grinsten. Die Sonnenbrille wollte Joachim Löw nicht absetzen, aber auch der Nationaltrainer winkte den knapp 200 Dorfbewohnern durch die getönten Busscheiben zu. Ein bisschen Gekreische, einige wedelnde Fähnchen. Dann, nach nicht mal zwei Minuten, war es schon wieder vorbei. Zumindest fast.
Den größten Unterhaltungswert bei der ersehnten Ankunft der deutschen Nationalmannschaft hatten nämlich keinesfalls die vorbeirauschenden Fußballer, sondern der Mannschaftsbus. Erst nach 20 Minuten schafften Brasilianer und Deutsche, das tonnenschwere Gefährt ohne allzu viele Kratzer und Dellen von der Fähre zu navigieren. Für die drei schwitzenden Mitarbeiter der Fähre ein erster Stresstest, für die verbliebenen Schulkinder aus Santo André ein ganz herrliches Vergnügen. Aller Anfang ist schwer.
Viel mehr als für den Bus gilt diese Binse vor allem für die Nationalmannschaft. Der Start in Brasilien ist gleichbedeutend mit dem Ende der WM-Vorbereitung – und diese war deutlich holpriger als die Busankunft. Die Pipi-Affäre von Großkreutz, Löws Führerscheinentzug, der schwere Unfall bei einem PR-Termin und schließlich, als es gar nicht mehr hätte schlimmer werden können, das Reus-Drama von Mainz.
„Natürlich war das tragisch, aber ich habe nicht das Gefühl, dass Marcos Verletzung die Mannschaft nachhaltig geschockt hat“, sagte DFB-Manager Oliver Bierhoff am Montag, als die schwere Verletzung von Marco Reus auch 8718 Kilometer vom Tatort entfernt ein Thema im gerade erst bezogenen WM-Quartier der Nationalmannschaft war. Bereits in der Nacht zu Sonnabend, Stunden nach der 6:1-Generalprobe gegen Armenien, gab es in der Mainzer Uniklinik nach einer Kernspinuntersuchung die schlimme Gewissheit: Teilriss des vorderen Syndesmosebandes oberhalb des linken Sprunggelenks. Das WM-Aus für Reus!
„Ich weiß wirklich nicht, wie ich in Worten ausdrücken soll, was ich gerade empfinde. Ein Traum ist von einer zur anderen Sekunde geplatzt“, sagte der Offensivwirbler, als er am Sonnabend am frühen Abend an Gehhilfen aus dem Knappschaftskrankenhaus in Dortmund-Brackel humpelte – nahezu zeitgleich, als seine Nationalmannschaftskollegen am Frankfurter Flughafen den Airbus A340-600 nach Salvador bestiegen. Es war ein Flug ins Ungewisse – ohne Schlüsselspieler Reus mehr denn je.
Doch selbst der letzte Nackenschlag, das versuchte Bierhoff in Santo André am Pfingstmontag deutlich zu machen, soll und darf die Mission Mundial der Nationalmannschaft nicht nachhaltig beeinträchtigen. Schließlich hätte das Nationalteam auch vor vier Jahren einen Last-Minute-Schock verdauen müssen. Damals fiel Kapitän Michael Ballack nach einem üblen Foul von Kevin-Prince Boateng für die WM aus. Die nahezu identische Diagnose damals: Riss des Syndesmosebandes. Die damalige Folge: eine herausragende Weltmeisterschaft. „Bei der Ankunft mit der Fähre konnte ich in den Gesichtern der Spieler diese besondere Atmosphäre hier sehen. Hier spüren wir den Rhythmus Brasiliens, und den wollen wir jetzt auch auf den Rasen übertragen“, sagte der DFB-Manager, der nun aus dem Campo Bahia möglichst schnell ein Camp der guten Hoffnungen machen will.
Ausgerechnet das ähnlich wie ein G8-Gipfel geschützte Quartier, über das monatelang kontrovers berichtet wurde, soll also nach der Pleiten-Pech-und-Pannen-Vorbereitung Löws letzter Trumpf bei dieser WM werden. Tischtennisplatte, Dartscheibe und Billiardtische sorgen in der Luxusherberge für echte Jugendherbergsatmosphäre, auch die Playstation für Mesut Özil und Kollegen fehlt natürlich nicht.
Letztendlich geht es aber auch im Campo Bahia in erster Linie natürlich um Fußball. Knapp eine Woche hat der Nationaltrainer Zeit, um Bierhoffs aufmunternde Theorie im Auftaktspiel gegen Portugal in die Praxis umzusetzen. Grund zur Hoffnung gibt vor allem Torhüter Manuel Neuer, der nach seiner Schulterverletzung bereits am Sonntag erstmals wieder ein torwartspezifisches Training absolvieren konnte.
Auch am Montag, als knapp 600 Interessierte beim Training zuschauen durften, schonte Neuer seine rechte Schulter nicht. Mehr Beachtung als die „Schulter der Nation“ fand lediglich ein Grüppchen von rund 20 Pataxó-Indianern. In kompletter Tracht sorgten die Indios, die 15 Kilometer entfernt in der mit 5000 Bewohnern größten urbanen Indianer-Siedlung Brasiliens wohnen, vor allem bei den hoffnungsvollen Fotografen und TV-Teams für beste Laune. Am Ende der Einheit brachten die Indianer Geburtstagskind Miroslav Klose, der am Montag 36 Jahre alt wurde, ein Ständchen und tanzten mit den Profis fröhlich auf dem Rasen.
Doch selbst die kostümierten Pataxó und ein Camp der guten Hoffnungen können nicht darüber hinwegtäuschen, dass eine Woche vor dem WM-Start eine echte Stammformation noch lange nicht in Sicht ist. Entschieden ist nur, dass noch nichts entschieden ist. Zumindest fast nichts. In der Defensive gesetzt sind wohl lediglich Keeper Neuer, sofern er fit wird, sowie Mats Hummels und Per Mertesacker in der Innenverteidigung. Die Besetzung der linken Abwehrseite scheint offen, auch wenn Benedikt Höwedes die Nase vorn haben soll. Rechts hinten dürfte Jerome Boateng spielen – allerdings auch nur, wenn Philipp Lahm tatsächlich in einem 4-3-3-System mit Khedira und Toni Kroos im zentralen Mittelfeld aufläuft.
In der Offensive gelten Thomas Müller und Mesut Özil als gesetzt. Nur wo genau sie spielen, ist noch genauso offen wie die endgültige Entscheidung über den Reus-Ersatz. „Lukas Podolski und André Schürrle haben auch im Trainingslager irgendwie einen guten Eindruck gemacht“, sagte Löw, der nach dem letzten Test gegen Armenien und dem Reus-Schock irgendwie sehr oft das Wort „irgendwie“ benutzte.
Der Start in Brasilien und die ersten Tage im Camp dürfen trotz Reus-Schock, Buspanne und der einen oder anderen nicht funktionierenden Steckdose als gelungen bewertet werden. Zumindest irgendwie.