Spaniens Mittelfeldstratege Xavi will seine Leistung im WM-Finale gegen die Niederlande mit dem WM-Pokal krönen. Wer kann ihn stoppen?
Durban. Kürzlich wurde Xavier Hernández Reus gefragt, von welchem Gegenspieler er die meisten Tritte bekommen habe. "Ich bekomme nicht viele", antwortete er. Es war eine bemerkenswerte Aussage für jemanden, der gute Chancen hat, nach dem WM-Finale am Sonntag (20.30 Uhr/ZDF, Liveticker auf mobil.abendblatt.de und abendblatt.de) gegen die Niederlande zum besten Spieler des Turniers gewählt zu werden. Nur wer Xavi stoppt, kann Spanien stoppen - das wissen alle. Trotzdem: keine Fouls. Doch was nach einem Widerspruch gegen alle tradierten Logiken des Fußballs klingt, erklärt sich relativ schnell. Es ist einfach so, dass Xavi zu schnell denkt für seine Gegner.
Beispielsweise im Halbfinale gegen die Deutschen. Für den Beobachter mochte es so aussehen, dass den Mannen von Joachim Löw die Aggressivität fehlte. Tatsächlich war der Ball meist schon weg, bevor es die Gelegenheit gegeben hätte zu foulen. Das Spiel blieb fast körperlos, weil es Xavi und seine Alliierten im Mittelfeld so wollten und weil sie einen guten Tag erwischt hatten. Einen, an dem die Kugel so zirkulierte wie damals in der Jugend, wenn ihnen der Trainer Carles Rexach mit dem Rücken zum Platz applaudierte.
"Mister, Sie sehen doch gar nichts", riefen die Jungs. "Aber ich höre den Ball und deshalb weiß ich, dass er gut läuft", sagte Rexach. Xavi hat diese Anekdote einmal erzählt, um zu illustrieren, wie das Spiel geübt wird in La Masia, dem Internat des FC Barcelona, das die Ideen von Johan Cruyff lehrt und das keinen Spieler hervorgebracht hat, der diese so rein verkörpert wie Xavi Hernández.
Dass er Talent hat, war schon früh klar, als er daheim in Terrassa stürmte, einer 200 000-Einwohner-Stadt nahe Barcelona. "Schon mit sechs hat mich Barça nach ihm gefragt", sagt sein Vater Joaquín, der früher dort für die zweite Mannschaft spielte. Mit elf war es dann so weit, doch bei Barça angekommen, schulten sie ihn erst mal um. Für einen Angreifer sei er zu langsam, sagten sie ihm, aber er habe große Begabungen im Passspiel und darin, eine Partie nach seinen Vorstellungen zu gestalten. Sie lasen ihn wie ein offenes Buch.
"Ich denke permanent daran, wie wir spielen können, welche Mitspieler ich zur Verfügung habe, ob ich einem den Ball in den Fuß spielen soll oder einen anderen steil schicken" - so beschreibt Xavi heute seine Arbeit auf dem Platz. Doch auch daneben ist er verrückt nach Fußball, auf eine geradezu romantisch-altmodische Weise. Er braucht keine feste Freundin, er lebt immer noch in Terrassa, er hat keinen Computer und nicht einmal eine Email-Adresse. In seiner Freizeit spielt er Kicker (nie Playstation). Sein Hund heißt "tiro", Torschuss. Vor ein paar Monaten fragte ihn Barça-Trainer Pep Guardiola, ob er später nicht Trainer werden wolle. Auf keinen Fall, sagte Xavi. Guardiola insistierte: Aber was denn sonst? Da lachte Xavi und sagte: Stimmt, was soll ich sonst eigentlich schon machen?
Als er in Barças Jugend spielte, vergötterte er Guardiola, den Prototyp eines Spielmachers Cruyff'scher Vorstellung. Und verinnerlichte das Prinzip der holländisch-katalanischen Fußballschule: es geht nur ums Kollektiv.
Wenn Spanien am Sonntag Weltmeister wird, wenn Xavi dann wirklich zum besten Spieler des Turniers gewählt wird, so wie er es schon bei der EM vor zwei Jahren war, und wenn er auf der Basis dieser ganzen Erfolge dann vielleicht sogar einmal die Ehrung zum Weltfußballer des Jahres gewinnt, vor allen Messis, Ronaldos oder Robbens: Es wäre eine Sensation in der starfixierten Fußballindustrie. Denn Xavis ganzes Spiel ist darauf ausgerichtet, andere glänzen zu lassen. Und deshalb war er eigentlich immer weniger einer für die Kurve als für den Connaisseur.
Für Trainer also wie Louis van Gaal, unter dem er mit 18 in der ersten Mannschaft debütierte. Ein paar Wochen später, Barcelona war nur Zehnter in der Tabelle, rettete er dem Coach mit seinem ersten Ligator in Valladolid den Job. Es war keine einfache Zeit, weil er teilweise anstelle Guardiolas spielte und die Fans beide immer verglichen. "Van Gaal hatte nicht viel Taktgefühl, er unterwarf mich einem brutalen Druck", erinnert sich Xavi. "Und er trug mir die schlimmsten zwei Wochen meines Lebens ein, als er mich einmal zur zweiten Mannschaft zurückschickte." Aber er sagt auch, dass er von ihm gelernt hat, mentale Stärke zu zeigen, standfest zu bleiben. Am Ende dieser ersten Saison machte der AC Mailand ihm ein Angebot, er würde dort ein Vielfaches verdienen. Der Vater sagte, er könne es nicht ausschlagen. Die Mutter drohte mit Scheidung. Xavi blieb in Barcelona.
Über 500-mal hat er inzwischen für seinen Herzensklub gespielt, doch noch vor gut zwei Jahren, bevor Guardiola auf die Trainerbank kam, erwägten sie, ihn zu verkaufen. Der Prophet hat lange gebraucht, um im eigenen Land unantastbar zu werden. "Ich habe viel Kritik ausgehalten", sagt er, "das schafft man nur mit innerem Frieden." Der ist bei ihm so groß, dass es ihm problemlos über die Lippen kommt, seinen Nebenmann Andrés Iniesta als besten Fußballer zu bezeichnen, den er je gesehen hat. So groß, dass er exakt 90 Minuten vor jedem Spiel alles stehen und liegen lässt, um mit seiner Mutter zu telefonieren. So groß, dass er auch im WM-Finale wieder vor allem an die anderen denken wird.