Las Vegas. Die einstige Zockermetropole verändert ihr Image. Die Rückkehr der Rennserie steht sinnbildlich dafür. Schwere Panne beim Training.

Andrej grantelt. Das macht er immer noch auf Russisch. Früher war er ein Spitzenathlet im Modernen Fünfkampf, nahm 1994 an der WM im britischen Sheffield teil. Vor allem im Fechten konnte es kaum jemand mit ihm aufnehmen. Doch ein Gegner ist selbst für den aus Kazan stammenden Mittfünfziger nicht zu bezwingen: die Kursplaner der Formel-1-Strecke in Las Vegas.

„Die nehmen mir meine Straßen weg“, sagt Andrej, der mittlerweile als Taxifahrer in der Wüstenmetropole arbeitet. Seit mehr als 20 Jahren lebt er mit seiner Familie in Las Vegas, es lebe sich dort sehr gut, was die einhellige Meinung der Einheimischen ist. „Aber so schlimm wie jetzt war es mit dem Verkehr wegen all der Bauarbeiten und Sperrungen noch nie“, schimpft Andrej.

Formel 1 nach 42 Jahren wieder in Las Vegas

So groß, so grell und vor allem so schnell war es noch nie, frohlockt dagegen Stefano Domenicali. Der 58 Jahre alte Italiener gilt als einer der tüchtigsten Treiber hinter dem Plan, die prestigeträchtigste Rennserie der Welt wieder nach Nevada zu holen.

1981 fand zuletzt ein Formel-1-Lauf in Las Vegas statt. Zum Rennstart am Sonntag (7 Uhr/Sky) ist die Königsklasse des Motorsports zurück auf dem sagenumwobenen Strip.

Spitzengeschwindigkeiten bis zu 345 km/h

6,2 Kilometer lang ist der Stadtkurs. Bis zu 345 Kilometer pro Stunde erreichen die Boliden auf der 1900 Meter langen Geraden über den Strip, vorbei an fast allen bedeutsamen Hotels und Spielertempeln: dem Caesar’s Palace, auf dessen Parkplatz (!) vor 41 Jahren der bislang letzte Grand Prix ausgetragen wurde; dem Paris, dessen Antlitz der Nachbau des Eiffelturms ziert; und an den Fontänen des Bellagio, eines der besten Häuser der Stadt.

Erst im März 2022 wurde bekannt gegeben, dass das Straßenrennen stattfinden wird. Seitdem liefen die Konstruktionen rund um die Uhr, was nicht sonderlich bemerkenswert ist, da die gesamte Stadt rund um die Uhr läuft.

Stadt strebt "lebenslange Partnerschaft" an

Offiziell wurde nur ein Vertrag bis 2025 abgeschlossen, aber die Stadt strebt eine „lebenslange Partnerschaft“ an. Mindestens erst einmal über zehn Jahre, die der Region einen monetären Vorteil von mehr als einer Milliarde US-Dollar bringen soll.

„Wir werden lange in Las Vegas bleiben und permanent präsent sein“, sagt Formel-1-Boss Domenicali. Das kostet. Allein für die 15 Hektar Land, auf dem sich das Boxengelände befindet, flossen 225 Millionen Euro.

Bauarbeiten in Rekordzeit abgeschlossen

Die Bauarbeiten wurden in Rekordzeit erledigt – auch weil sie es wegen enger Terminpläne mussten. „In Las Vegas werden Projekte ganz schnell aufgebaut und umgesetzt, aber ebenso schnell wieder abgerissen, wenn sie nicht funktionieren“, sagt Jürgen Schmieder (44), in Los Angeles lebender Westküsten-Korrespondent der Süddeutschen Zeitung und Vegas-Veteran.

Die Tribünen werden schon kurz nach dem Rennen wieder demontiert. Das spektakuläre Boxengebäude, in dem sich ebenerdig Garage an Garage reiht und im Obergeschoss sowie auf der Dachterrasse die VIPs betütert werden, bleibt. Wohl nirgends sonst in der westlichen Hemisphäre hätte die Bauzeit eingehalten werden können.

Panne im ersten freien Training

Ron Anderson ringt sie nur ein müdes Lächeln ab. Der zwei Meter große Oberaufseher der Arbeiten – Ex-Soldat, Familienvater, abends Eishockeyspieler in einer „Bierliga“ – hat schon am Bau von Elon Musks Hyperloop-Tunnel unter Las Vegas hindurch mitgewirkt. Das mit der Formel 1 sei sein „viertschwierigstes Projekt“ bislang gewesen, schätzt er. Business as usual in der Stadt.

Doch nicht alles lief zu Beginn wie gewünscht. Ein Gullydeckel löste sich auf der Strecke, als Ferrari-Pilot Carlos Sainz jr. mit Tempo 320 darüberfuhr. Das erste freie Training lief zu diesem Zeitpunkt gerade erst acht Minuten und wurde nach dem Vorfall abgebrochen.

Prestigeprojekt läuft mit Verzögerung an

Der Deckel zerstörte den Unterboden seines Boliden, Ferrari sprach später von einem Totalschaden. Konkret wurden neben dem Energiespeicher auch die Überlebenszelle, der Verbrennungsmotor und die Kontroll-Elektronik irreparabel beschädigt.

Vor längst geräumten Tribünen und mit zweieinhalb Stunden Verspätung wegen Reparaturen auf der Strecke konnte beim Prestigeprojekt der Formel 1 in den USA aber wenigstens das zweite Training absolviert werden. Da waren die Teamchefs von Mercedes und Ferrari schon längst angefressen. „Das ist für die Formel 1 heute einfach inakzeptabel“, schimpfte Frederic Vasseur von der Scuderia.

Las Vegas verändert sein Antlitz merklich

Unabhängig von dieser Gully-Panne aber ist Las Vegas längst dem Status eines frevelhaften Glücksspielermolochs entwachsen und zum boomenden Entertainmentnabel der USA geworden. Wer Unterhaltung ganz gleich welcher Art sucht, wird sie dort finden.

Einzige Voraussetzung: Man muss sich ein wenig auf Stadt, Land und Leute einlassen wollen. Ach ja, und man sollte selbstverständlich finanziell nicht ganz schlecht ausgestattet sein, wobei sich abseits des Mainstreams auch günstiger Spaß haben lässt.

Der US-Sport zieht zunehmend nach Nevada

Die Einnahmen werden insbesondere ins Sportgeschäft massiv investiert. Die Formel 1 ist dabei nur ein Beispiel von vielen. Das Hauptquartier des Milliarden-Kampfsportimperiums der UFC befindet sich hier. 2017 wurde das Eishockeyteam der Las Vegas Golden Knights, amtierender NHL-Champion, gegründet.

Ein Jahr darauf kamen die Basketballerinnen der Las Vegas Aces, die die vergangenen beiden Meisterschaften gewonnen haben. 2020 zogen die Footballer der Las Vegas Raiders aus dem kalifornischen Oakland um in das gigantische Allegiant Stadium (72.000 Plätze), in dem in dieser Saison der Super Bowl ausgetragen wird.

Oakland verliert zwei Sportteams an Las Vegas

2028 klaut Las Vegas Oakland auch das Baseballteam. Außerdem gilt es als beschlossen, dass die 650.000-Einwohner-Stadt eine Basketballmannschaft bekommt, sobald die NBA ihre Liga von 30 auf 32 Vereine vergrößert.

Hauptsache, der Dollar – und für Andrej der Rubel – rollt. Dafür wurde der Rennstart extra auf 22 Uhr Ortszeit gelegt. Spektakulärer geht’s kaum. Die Lichter, die Fahrt entlang der Sphere, der phänomenalen kugelförmigen Mehrzweckhalle. Schon Stunden später ist alles vorbei, der Strip wieder für den Verkehr freigegeben. Und Andrej hat seine Straßen wieder. Zumindest für ein Jahr.