Essen. Am 13. November 1994 gewann Michael Schumacher seinen ersten WM-Titel in der Formel 1. Er stellte damit die deutsche Sportwelt auf den Kopf.
England gegen Deutschland, das ewige Duell im Sport. Immer gut für Dramen. Und seit jenem 13. November 1994 sogar für solche der beschleunigten Art. Was an jenem frühen Morgen hiesiger Zeit im australischen Adelaide passiert, wird einen Sportler, eine Sportart, eine ganze Sportnation verändern. Bis hin zur Wochenendgestaltung vieler Familien. Es ist der Tag, an dem Michael Schumacher zum ersten Mal Formel-1-Weltmeister wird, als erster Deutscher.
Die Dinge rückwärts zu betrachten, das ist etwas, mit dem sich Michael Schumacher nie hatte anfreunden können. Motorsporthistorie war für einen ewigen Nach-Vorne-Denker wie ihn viel zu abstrakt. Mit Geschichte ist er nicht groß geworden auf der Kartbahn von Kerpen, obwohl diese auf Wolfgang Graf Berghe von Trips zurückgeht. Der Adlige hatte 1961 Chancen auf den Weltmeistertitel, war beim vorletzten WM-Lauf in Monza mit seinem Ferrari aber tödlich verunglückt. Einen deutschen Champion hatte die Königsklasse nie, bis der Junge aus der Kiesgrube kam. Michael Schumacher war fasziniert von der Technik, wollte vor allem aber einfach nur schnell fahren. Mit diesem simplen Ansatz schrieb er vor 30 Jahren selbst Sportgeschichte.
Eine Euphorie, vergleichbar mit der um Boris Becker
In der 36. Runde beim Großen Preis von Australien rummst es gewaltig zwischen dem Williams von Damon Hill und dem Benetton von Schumacher. Sie streiten sich um die Kurve, die Kollision im feindlichen Klima des Rennjahres ist unvermeidlich. Schumachers Benetton schlittert in die Reifenstapel. Aus. Alles aus. Die Hand in der Armbeuge lehnt der vermeintlich Geschlagene hinter dem Fangzaun. Denkt, dass der Titel beim Teufel ist. Aber der Teufel steckt in der verbogenen Vorderradaufhängung des Williams. Als Hills Auto bald darauf rückwärts in die Garage geschoben wird, blendet die Fernsehregie die Worte „Michael Schumacher World Champion 1994“ ein. Im Boxen würde es heißen: Sieg durch technischen K.o.! Ein Streckenposten flüstert dem ungläubigen Schumacher die Nachricht ins Ohr. Der erhobene Arm, die zur Faust geballte Hand wirken noch etwas schwach, aber im Blick liegt schon die Seeligkeit. Die Autobahn-Nation ist plötzlich wer in der Formel 1.
Auf der britischen Insel bleibt Schumacher umstritten, selbst als er seinen Titel verteidigt, und später mit Ferrari zum Rekordchampion der Königsklasse wird. Sieben Titel in einem Jahrzehnt. Das löst eine Euphorie aus, vergleichbar der um Boris Becker. Die Einschaltquoten schnellen bis in zweistellige Millionenhöhen, dort halten sie sich lange, zeitweise kam da nicht mal mehr der Fußball mit. Die Öffentlich-Rechtlichen waren zu arrogant gewesen, sich um die TV-Rechte von so etwas wie Autorennen zu kümmern, mit Schumacher als Zugpferd wurde RTL populär und plötzlich hoffähig. Die Marke Schumi war erfunden – hätte es diese Kategorisierung damals schon für Sportstars gegeben.
Deutsche Piloten in der Formel 1: Nur noch Hülkenberg ist übrig
Was ist davon geblieben? Nach Schumachers sieben Titeln, seinem Rücktritt, seinem bescheiden verlaufenen Comeback und seinem schweren Skiunfall vor zehn Jahren hält sich das Interesse, doch nach den Boom-Zeiten folgte ein andauernder Abschwung. Toto Wolff, der österreichische Teamchef des Mercedes-Werkrennstalls, drückt es so aus: „Deutschland hat immer noch den Schumacher-Kater.“
Von bis zu sieben deutschen Fahrern, die in einem Grand-Prix-Jahr zeitgleich in der Formel 1 fuhren, ist nur noch einer übrig geblieben: Nico Hülkenberg, der künftig für das Sauber-Team antritt. Der mittlerweile 35-Jährige war einst von Schumacher und dessen Manager Willi Weber als Nachfolger auserkoren worden. Er hielt den Ansprüchen von Motorsport-Deutschland nur bedingt stand, die sich stets an den Leistungen des Rekord-Weltmeisters orientierten. Selbst Sebastian Vettel, immerhin ein vierfacher Champion, konnte die allgemeine Euphorie nicht aufrechterhalten. Für den Hessen erklang im September 2019 letztmals bei einem Grand Prix die deutsche Nationalhymne für einen Fahrer.
Sohn Mick bleibt eine große Formel-1-Zukunft wohl verwehrt
Michael Schumachers Sohn Mick muss nach zwei Jahren beim chancenlosen Haas-Team und zwei Jahren als Ersatzfahrer bei Mercedes mit 25 seine Formel-1-Pläne wohl ad acta legen. In der Formel 2 findet sich gar kein Deutscher mehr. In der Formel 3 sind immerhin der Deutsch-Dänen Oliver Goethe und Red-Bull-Zögling Tim Tramnitz als Nachwuchskräfte vertreten, dazu Sophia Flörsch, die aber eher durch geschickte Selbstvermarktung auffällt. Flauten in Rennfahrer-Generationen durchlaufen viele große Motorsport-Nationen, die Briten einmal ausgenommen. Brasilien und Italien stellen nach längerer Pause erst 2025 wieder einen eigenen Piloten, auch die Franzosen mussten erst über lange Jahre hinweg erst ein neues Fördermodell für den Nachwuchs aufbauen.
All das gibt es hierzulande, potenzielle Sponsoren ebenfalls. Sollte man meinen. Aber die Tatsache, dass nach fast 70 Auflagen kein Großer Preis von Deutschland mehr im Formel-1-Kalender steht, unterstreicht das Dilemma: es fehlt an Geld und Perspektive. Sogar Audis Engagement beim Sauber-Team soll jetzt mit Geld aus Katar bezuschusst werden. Das Mercedes-Team hingegen, im weltweiten Formel-1-Boom mit einem Marktwert von einer Milliarde Euro notiert, orientiert sich an Globalität. Formel-1-Deutschland muss lernen: Tradition allein reicht nicht.