Hamburg. Leistungssport nach einer Schwangerschaft wird zu wenig mitgedacht. Hamburgerin startet im September in Paris – die Familie ist dabei.

Liam ist in ein Videospiel auf einem Tablet vertieft. Es zischt und knallt, er liegt auf dem Bauch auf einer Matte, drückt voll konzentriert irgendwelche Knöpfe – und Mutter Edina Müller (40) geht gleichzeitig ihre dritte Krafteinheit im Gym des Wassersportleistungszentrums Allermöhe an.

Liam ist jetzt fünfeinhalb, er kennt die Abläufe. „Ich nehme ihn, wenn möglich, überall mit hin“, sagt die Kanu-Paralympicssiegerin von Tokio 2021.

Müller zieht nichts ins paralympische Dorf

Zu den Paralympischen Spielen in Paris, die vom 28. August bis 8. September als „zweite Halbzeit“ nach den Olympischen Spielen steigen, wird der aufgeweckte Rotschopf auch mitkommen. „Diesmal ist es einfacher als in Tokio, es ist näher dran, ich stille nicht mehr und wir haben keine Pandemie“, erklärt Müller.

Ins Paralympische Dorf zieht sie dennoch nicht, sondern hat mit ihrem Lebensgefährten Nico Classen ein Appartement in der Nähe der Regattastrecke in Vaires-sur-Marne außerhalb der französischen Hauptstadt gemietet.

Parakanu: Rennen in Paris ab 6. September

Liam wird also dabei sein, wie immer, wenn seine Mama die 200 Meter im Kajak sprintet. Vielleicht legt er dann auch mal kurz das Tablet zur Seite. Am 6. und 8. September stehen ihre Wettkämpfe an. Vorher ist noch ein Trainingslager in Duisburg, eine Woche vorher geht es dann nach Frankreich.

Ob es wieder eine Medaille für die Team-Hamburg-Athletin wird? Unsicher. „Die Konkurrenz ist stärker geworden, es gibt sechs Nationen, die um den Titel mitfahren“, sagt das Ehrenmitglied des HSV, „ich brauche als leichte Athletin auch Glück mit den Bedingungen. Gegen- und Seitenwind wäre schlecht, Rückenwind wäre super.“

Fast 10.000 Euro Kosten für die Reise nach Tokio

In Tokio hatte alles geklappt – auf der Regattastrecke. Die weiteren Erfahrungen dort möchte sie aber nicht mehr machen müssen. Mütter (und Väter) als Leistungssportlerinnen waren einfach nicht vorgesehen. Kleinkinder sollten ihre Eltern nicht begleiten können, Akkreditierungen gab es nicht, es war eine Odyssee durch diverse Widrigkeiten der Bürokratie.

„Diesen Kampf habe ich weitgehend allein geführt, die Verbände haben sich sehr zurückgehalten“, berichtete Müller kürzlich auf dem „Hamburg Sports Summit“. Unterkunft, Reise, Verpflegung und Co. hätten sie 2021 rund 10.000 Euro gekostet, damit die Familie dabei sein konnte. Müller hatte sich vor Tokio mit diversen anderen Organisationen verbündet, um fachliche und moralische Unterstützung zu erhalten.

Athleten Deutschland und „And Mother“ helfen

So setzt sich in den USA die Organisation „And Mother“ für die Interessen von Müttern ein, „Athleten Deutschland“ ist zudem in diversen Gremien aktiv und unterstützend. Grundsätzlich bleibt aber die Feststellung: „Mütter und schwangere Frauen sind keine Parallelgesellschaft, wir müssen daran arbeiten, dass es für alle Frauen die Möglichkeit zu Leistungssport gibt.“

Als sie 2019 dem Deutschen Behindertensportverband mitteilte, dass sie schwanger sei, aber in Tokio starten möchte, „habe ich nur einen Brief erhalten, in dem es hieß ,viel Glück für den neuen Lebensabschnitt´“. Erschreckend sei auch, dass die wissenschaftliche Studienlage über Training in und nach der Schwangerschaft dünn und kaum zugänglich sei. Dass es keine Infos gibt.

Intensive Gespräche mit Birgit Fischer

„Ich habe mich damals mit Birgit Fischer (62) unterhalten, wie sie denn so trainiert hatte“, erzählt Müller. Die achtfache Goldmedaillengewinnerin im Kanu war in den 80er-Jahren schwanger, vor knapp 40 Jahren. Dokumentiert sei da aber wenig bis nichts. Und die aktuellen Mütter gingen immer noch durch den gleichen Prozess von Unsicherheit und Unwissen: „Neulich sprach ich mit Gesa Krause, die hatte die gleichen Themen wie ich für fünf Jahren.“

Ein wenig tut sich jedoch schon, wenn auch langsam. „Es ist besser geworden, das Bewusstsein für Eltern im Leistungssport ist etwas gestiegen“, meint Müller, „so gibt es im olympischen und paralympischen Dorf in Paris erstmals einen Raum, wo man sich mit der Familien treffen kann.“ Einen. Für rund 6000 Bewohner. Der Familienbereich ist mit einem Wickeltisch, einem Stillbereich und einem Spielbereich ausgestattet.

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Der Deutsche Segler-Verband hat einen Sonderfonds für junge Eltern eingerichtet, der bei den Kosten für Kinderbetreuung und Reisen hilft. Bei der Deutschen Sporthilfe gibt es einen Fonds „Come back stronger“, der verletzte Athleten unterstützt, die ihren Kaderstatus nicht halten können. Damit werden auch Schwangere unterstützt. Schön, aber für Edina Müller der falsche Ansatz: „Wir sind keine verletzten Athleten, es muss Hilfe für Mütter und Schwangere geben, es geht auch um Sichtbarkeit.“

Und daraus folgt der logische Appell an den DOSB: „Der hat die Macht, Regelungen einzuführen, um den Frauen die Unsicherheit zu nehmen.“ Edina Müller ist jedoch alles andere als naiv, sie weiß genau: „Das System ist träge.“