Paris. Darja Varfolomeev ist erste deutsche Olympiasiegerin in der Rhythmischen Sportgymnastik. Sie erfüllt sich nach einer mutigen Reise ihren Traum.
Im größten Moment ihrer Karriere dachte Darja Varfolomeev nicht an sich. Als das offizielle Ergebnis auf den Bildschirmen in der La Chapelle Arena von Paris angezeigt wurde und sie als Olympiasiegerin in der Rhythmischen Sportgymnastik feststand, eilte sie sofort zu ihrer Team- und Trainingskollegin Margarita Kolosov. Die 17-Jährige nahm die 20-Jährige in den Arm, spendete Trost und verzichtete auf einen ausschweifenden Jubel, als der Hallensprecher ihren Triumph mit 142,850 Punkten verkündete. Kolosov war in Tränen aufgelöst. Ganz zum Schluss war sie noch von der Italienerin Sofia Raffaeli aus Italien (136,300 Punkte) vom Bronzerang verdrängt worden. Silber gewann die Bulgarin Borjana Kalejn (140,600).
Darja Varfolomeev hatte ihren olympischen Moment bereits gehabt. Als nach ihrer Band-Übung, der letzten im Mehrkampf mit vier Geräten, das Ergebnis angezeigt wurde, fiel der ganz Druck, der auf ihr, der fünfmaligen Weltmeisterin, gelastet hatte, von ihr ab. Alle Emotionen wollten auf einmal raus. Sie schluchzte, strahlte, winkte, schwang noch einmal ausgelassen und kunstvoll ihr buntes Band. Sie und auch die begeisterten 8000 Zuschauer wussten: Die letzte Starterin würde nicht mehr an ihr vorbeiziehen können, sie wurde zur ersten deutschen Olympiasiegerin in der Rhythmischen Sportgymnastik. Einzig Regina Weber – Mutter von Fußball-Nationalspieler Leroy Sané – hatte 1984 in Los Angeles Bronze gewonnen. „Ich realisiere das immer noch nicht. Aber das bedeutet mir alles. Die ganze Arbeit hat sich gelohnt“, sagte sie mit der schweren Goldmedaille um ihre schmalen Schultern und dankte besonders ihrer Trainerin Julija Raskina.
Nervosität war im Finale spürbar
Was war das für ein Druck, unter dem die Schülerin aus Baden-Württemberg gestanden hatte. Von allen Seiten war sie zur großen Favoritin erklärt werden. Das kann einen jungen Geist schonmal ins Wanken bringen. Auch Varfolomeev, die von mentaler Stärke und der Magie ihrer Ausstrahlung als ihre beiden Superkräften spricht, blieb von der Erwartungshaltung nicht unberührt. In der Qualifikation am Donnerstag waren ihr Flüchtigkeitsfehler mit dem Reifen und dem Band unterlaufen. „Ich war am Anfang voll locker mit dem Ball. Danach habe ich gemerkt, wie viele Menschen da sind, dass ich jetzt hier bei Olympia bin. Dann ist mir mit dem Reifen ein kleiner Fehler passiert“, erklärte sie selbst. Aber: „Es wird schon!“
Die Gelassenheit war im Finale dann jedoch nicht zu sehen. Die Überfliegerin wirkte angespannt, konzentriert. Doch sobald die Musik erklang, schien ein Schalter umgelegt. Sie zauberte Darbietungen auf den Teppichboden, die das Publikum zu regelrechten Jubelorgien veranlasste. Präzision und Eleganz, sie vereinte beides. Die Spannung war beinahe physisch greifbar, wenn sie Reifen, Ball, Keulen oder Band weit hinauf Richtung Hallendach warf, nur um sie dann kunstvoll aus der Luft zu schnappen. Die ganze Arena, in der viele Deutschlandfahnen zu sehen waren, schien bei jedem Wurf zu denken: Los, fang das Ding! Und wie sie es fing. Als hätte sie die Geräte an eine Schnur gebunden, fanden sie immer wieder den Weg genau dahin, wo Darja Varfolomeev sie haben wollte.
Zur Musik von Michael Jackson begeistert
Mit dem Reifen zeigte sie diesmal keine Schwäche, mit dem Ball begeisterte sie. Zur Musik von Michael Jackson zeigte sie Bewegungen der Pop-Ikone würdig – inklusive des legendären Moonwalks. Sechs Monate hatte sie allein an diesen Tanzschritten geübt. Wenn schon Michael Jackson, dann bitte richtig. Mit ähnlich hohen Schwierigkeitsgraden legte sie mit Keulen und Band nach. Dreimal gewann sie die Gerätewertung, beim Band belegte sie Platz zwei.
Die Halle bebte und tobte. Doch Darja Varfolomeev wollte gar nicht hinschauen. Nach ihren Übungen hielt sie den Kopf gesenkt, als wollte sie die Welt ausschließen. Sie konzentrierte sich nur auf sich. Bis zur Verkündung des letzten Ergebnisses hatte sie ihre Wertungen nicht gekannt, nicht gewusst, wie gut sie eigentlich längst unterwegs war.
Mit zwölf Jahren kam sie aus Russland nach Deutschland
Sie ist am Ziel einer Reise, die viel Mut erfordert hat. Diese begann vor fünf Jahren. Da beschloss die begeisterte Sportgymnastin, die in der Heimat in Westsibirien von den Olympischen Spielen träumt, ihr Glück in Deutschland zu versuchen. Mit zwölf Jahren kam sie ohne ihre Eltern und ohne die Sprache zu sprechen nach Fellbach-Schmiden an den Bundesstützpunkt in Baden-Württemberg. Weil ihr Großvater Deutscher ist, konnte sie von der russischen zur deutschen Staatsbürgerschaft wechseln. „Es hat sich alles gelohnt“, sagte sie nun nach der Erfüllung ihres Olympia-Traums.
Als bei der Siegerehrung die deutsche Nationalhymne gespielt wurde, sang Darja Varfolomeev munter mit. Was hat sie für eine Chance in diesem Land gesehen – und auf welch märchenhafte Weise hat sie sie genutzt.
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