Saint-Denis. Noah Lyles ist Sprint-Olympiasieger. Doch der US-Amerikaner arbeitet an seinem Vermächtnis. Das geht nur über Usain Bolt.
Noah Lyles versucht gerne Dinge, die unmöglich scheinen. So saß der Olympiasieger über 100 Meter kurz vor Mitternacht in den Katakomben des Stade de France und versuchte, mit einem sehr geringen Abstand zwischen seinem hochgehaltenen Daumen und Zeigefinger darzustellen, wie knapp dieses Finale ausgegangen war. „So eng war es“, sagte er und grinste breit. Gerecht wurde er diesem Hauch eines Hauchs nicht: Fünf Tausendstelsekunden sind abstrakt. Selbst ein Wimpernschlag ist eine Zeitlupe dagegen.
Doch genau diese fünf Tausendstelsekunden bescherten Noah Lyles am Sonntagabend bei den Olympischen Spielen von Paris die Goldmedaille. Denn als der US-Amerikaner und sein jamaikanischer Konkurrent Kishane Thompson sich über die Ziellinie gewuchtet hatten, stand zunächst hinter beiden Namen die Zeit von 9,79 Sekunden. Fred Kerley (USA) stand mit 9,81 Sekunden als Bronzegewinner fest.
Noah Lyles lässt das Stadion in Paris beben
Die Entscheidung fiel im Fotofinish, die genauen Werte mussten ermittelt werden. Das bange Warten auf dieses Nichts von Unterschied wurde für die beiden zur Ewigkeit. Aber eine geteilte Goldmedaille ist in dieser Disziplin keine Option – für diese Wettkampftypen kann es nur einen geben. Als dann feststand, dass dieser eine Noah Lyles heißt, raste der 27-Jährige erneut los. Noch ehe ihm jemand eine US-Fahne umhängen konnte, hatte er schon das halbe Stadion umrundet. Vor sich hielt er sein Namensschild, nicht, dass es hier noch Zweifel gegeben hätte. Dann fiel er seiner Familie in die Arme.
Noah Lyles hat so viel Energie, er könnte das ganze Stadion mit Strom versorgen. Wie bei seinem Lieblingshelden aus einem japanischen Anime ist Energie für ihn wie eine Superkraft. Noch bevor sein Name bei der Vorstellung der besten acht Sprinter der Welt überhaupt ausgesprochen war, rannte und hüpfte er schon auf die Bahn wie ein aufgezogenes Spielzeug. Die ersten 50 Meter hatte er schon vor dem Startschuss hinter sich. Mit den Händen forderte er das Publikum auf, Lärm zu machen – und das gehorchte. „Das Publikum wollte diese Energie – und so konnten sie mir die Energie geben, die ich brauchte.“
Lyles verbindet große Klappe und große Leistung
Nach dem Startschuss kam Lyles, der wie Gina Lückenkemper von Lance Brauman in Florida trainiert wird, nicht gut weg, lief lange hinterher, schob sich aber mit aller Kraft nach vorne. Hatte es gereicht? Thompson flüsterte er zu: „Ich will ehrlich sein, ich glaube, du hast gewonnen.“ Er sei darauf vorbereitet gewesen, dass nicht sein eigener Name oben stehen würde. Als es dann doch anders kam, hab er gedacht: „Meine Güte, das ist ja unglaublich. Ich bin unglaublich.“
Solche Sätze sind es, die Noah Lyles mittlerweile auszeichnen. Er strotzt vor Selbstbewusstsein – und sieht keinen Grund, das zu verstecken. Vor den Spielen hatte er sich selbst zum Favoriten erhoben. Schließlich hatte er der Welt schon bei der WM vor einem Jahr mit seinen Siegen über 100 und 200 Meter sowie mit der 4x100-Meter-Staffel bewiesen, dass er das Potenzial für Außergewöhnliches hat. Große Klappe gehört zum 100-Meter-Geschäft. Doch nur die Besten liefern auch.
Erster Sprint-Olympiasieger für die USA seit 20 Jahren
Wendepunkt waren Lyles, der mit seinem Bruder bei der alleinerziehenden Mutter Keisha in ärmlichen Verhältnissen aufgewachsen war, die von Corona geprägten Spiele 2021 in Tokio gewesen. Als Favorit über 200 Meter hatte es dort nur zu Bronze gereicht, Lyles sprach danach offen über seine Depressionen. Es half ihm, um sich auf sich zu besinnen, besser zu werden, Tag für Tag. Kurz vor seinem Olympia-Coup telefonierte er mit seiner Therapeutin, die riet: „Du musst loslassen, du musst es fließen lassen.“ Darauf erwiderte er: „In Ordnung, ich werde dir vertrauen.“ Eine gute Entscheidung: Er lief so schnell wie nie und gewann das erste 100-Meter-Gold für die USA seit 20 Jahren.
In der Nacht sendete er dann eine Botschaft ins Netz. „Ich habe Asthma, Allergien, Legasthenie, ADS, Angstzustände und Depressionen. Aber ich sage Euch, dass das, was Ihr habt, nicht definiert, was Ihr werden könnt. Ihr könnt es auch schaffen.“ Noah Lyles ist nicht nur ein Superstar mit exzellenten Entertainer-Qualitäten, er will auch ein Vermächtnis hinterlassen. Immer wieder betont er, dass Athleten auch Menschen sind, mit Gefühlen, mit eigenen Geschichten. Er will seinem Sport zu mehr Sichtbarkeit verhelfen, will das alle sehen, was er so liebt, was ihm so viel gegeben hat.
In Paris hat er sich noch mehr vorgenommen: Er will gleich über vier Strecken gewinnen – auch die 4x400 Meter läuft er. Nicht einmal der große Usain Bolt aus Jamaika hat das geschafft. Als erstes steht seine Paradedisziplin an. „Sehr zuversichtlich“ gehe er das Rennen an, sagte er. „Wenn ich aus er Kurve komme, werden sie Depressionen bekommen. Ich werde gewinnen.“ Rumms. Wieder so ein Satz. So redet nur, wer an Unmögliches glaubt.
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