Paris. Ist es das Geläuf? Der Glaube? Die Gliedmaßen? Für die Ozeanier zählt bei Olympia jedenfalls nur Gold, das ganze Land steht dahinter.

Felipe Etcheverry brauchte erstmal einige Sekunden, um damit zurechtzukommen, was ihm soeben widerfahren war. Der Uruguayer blickte ungläubig ins Rund des gewaltigen und mit mehr als 60.000 Zuschauern gefüllten Stade de France. Ganz so, als hätte er soeben einen Geist gesehen.

Mit allem, was in seinem gut 80 Kilogramm schweren Körper war, hatte er sich an Selesitino Ravutaumada gehangen. Aber der Mann von den Fidschi-Inseln war einfach weiterspaziert, um den Ball im Malfeld abzulegen. Der nächste Versuch auf dem Weg zur 40:12-Demontage im ersten Vorrundenspiel beim Siebener-Rugby-Turnier der Olympischen Spiele in Paris.

Rugby bei Olympia in Paris: Warum die Fidschi-Inseln so gut sind

Dort führt auf dem Weg zur Goldmedaille kein Weg an den Ozeaniern vorbei, und Etcheverry dürfte nicht der erste Mensch gewesen sein, der seit dem Aufeinandertreffen mit den Insulanern an Geister glaubt. Bereits 2016 in Rio de Janeiro und 2021 in Tokio triumphierte Fidschi.

„Weil der Rugby-Geist mit uns ist“, sagt Ravutaumada. Ist das also die Begründung für die Dominanz eines 896.000 kleinen Landes in einer der weltweit populärsten Mannschaftssportarten? Ja, glaubt Ravutaumada: „Rugby ist in unseren Genen.“

Die gesamten Fidschis stehen während eines Rugby-Spiels still

„Absolut, er hat recht. Unsere Leidenschaft hebt uns ab, wir werden mit einem Rugbyball in der Hand geboren“, sagt Akuila Cama. Der kleine, bullige Mann wirkt abgekämpft. Die Müdigkeit ist begründet, der Journalist hat eine 23-stündige Flugreise hinter sich, um für die Fijian Broadcasting Corporation von Olympia zu berichten.

Gott sei Dank! Die Spieler der Fidschis sind tiefgläubig.
Gott sei Dank! Die Spieler der Fidschis sind tiefgläubig. © Getty Images | Cameron Spencer

Müde sind auch alle seiner Landsleute daheim im Pazifischen Ozean, 2000 Kilometer nördlich von Neuseeland gelegen. Beim Kick-off des Spiels gegen Uruguay ist es 3 Uhr nachts. „Aber ich garantiere, dass jeder wach ist. Selbst die Patienten in den Krankenhäusern sitzen plötzlich kerngesund vor dem Fernseher. Rugby ist unsere Religion“, sagt Cama.

Nationalspieler Ben Ellermann: „Große Hände und Füße helfen“

Es gibt aber auch jenseits der Esoterik Erklärungsansätze für die Überlegenheit des Inselarchipels, das während der britischen Kolonialherrschaft mit dem Rugby-Virus infiziert wurde. „Der Sport ist wie für die Fidschis gemacht. Die Menschen dort haben überdurchschnittlich große Hände und Füße sowie lange Gliedmaßen“, sagt der deutsche Nationalspieler Ben Ellermann vom FC St. Pauli.

Ben Ellermann (26/M.) vom FC St. Pauli spielt für die deutsche Nationalmannschaft, die die Qualifikation für Olympia in Paris verpasste.
Ben Ellermann (26/M.) vom FC St. Pauli spielt für die deutsche Nationalmannschaft, die die Qualifikation für Olympia in Paris verpasste. © Imago | Jürgen Kessler

Dazu seien die Akteure, was der 26-Jährige schon am eigenen Leib zu spüren bekam, extrem fit, schnell und kraftvoll. „Aber an der Sache mit dem Glauben ist auch was dran“, meint Ellermann. „Durch ihr Gottvertrauen sind die Spieler sehr selbstbewusst, mental ausgesprochen stabil, und vor allem merkt man ihnen eine große Spielfreude an.“

Training auf Sand von Vorteil für die Fidschis

Ein entscheidendes Kriterium ist zudem, dass Kinder auf den Fidschis vor allem auf Sand spielen. Training auf diesem Geläuf gilt als eines der besten, da es vor allem die kleinen Muskelgruppen beansprucht. Tennis-Idol Roger Federer setzte über viele Jahre auch darauf.

Über moderne Trainingsanlagen verfügt das nur mäßig entwickelte Land nicht, obwohl 80.000 Einwohner auf Vereinsebene organisiert sind, die Nationalspieler als Profis. „Unsere Infrastruktur ist nicht so ausgeprägt. Oftmals müssen wir zwei, drei Kilometer über Schotterpisten laufen und unsere Güter auf dem Rücken tragen, das macht uns stark“, sagt Cana.

Fidschi-Magic: Wenn Rugbyspieler blind zusammenspielen

Der Erfolg basiert aber nicht auf Glaube und Physis allein. Auch Ballgefühl und taktisches Gespür sind exzellent. „Wir spielen von klein auf mit allem, was wie ein Ball geformt ist, Rugby. Notfall sogar mit einer Plastikflasche“, sagt Ravutaumada.

Daraus ergibt sich dann das, was Ellermann als „Fidschi-Magic“ bezeichnet. „Sie sind wie blind aufeinander abgestimmt und brauchen kaum Kommandos auf dem Feld. Ein Blick genügt, und jeder von ihnen weiß, was passiert“, sagt er. Der Zusammenhalt im Team ist zudem enorm, in den Gruppenspielen wurden mehrfach sichere Versuche noch an einen nacheilenden Mannschaftskameraden abgegeben, um ihm die Punkte zu schenken.

Der Tag des Olympiasiegs wurde zum Nationalfeiertag auf den Fidschi-Inseln

„Es macht eben etwas mit dir, wenn du weißt, dass 900.000 Leute hinter dir stehen, wenn du dieses magische Trikot anziehst“, sagt Cana. Als Fidschi 2016 Olympia-Gold im Siebener-Rugby gewann, wurde der 22. August direkt zum nationalen Feiertag ausgerufen. Die Notenbank brachte einen neuen Schein im Umlauf: Er ist sieben Fidschi-Dollar wert.

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Wird das Land nun wieder stillstehen, sollte am Sonnabend der Olympiasieg gefeiert werden? „Oh“, sagt Cana und blickt ob der offenbar absurd naiven Frage selbst drein, als hätte er soeben einen Geist gesehen. „Natürlich, was denkst du denn?“