Berlin. Das EM-Finale könnte das letzte Spiel im Trikot der Nationalmannschaft für Álvaro Morata sein. Die eigenen Fans pfeifen ihn aus.

Sein Anliegen hat Luis de la Fuente während dieser EM 2024 wiederholt und überdeutlich vorgetragen. Nach jeder der Turnierpartien, die Spanien bislang in Siegen zählt, kam der Nationaltrainer gefragt oder ungefragt auf seinen Mittelstürmer Álvaro Morata zu sprechen. Zuletzt nannte er ihn nach dem Halbfinale gegen Frankreich den „besten Kapitän, den wir haben könnten“ und forderte, „ihn als einen der Großen der spanischen Fußballgeschichte anzuerkennen“. De la Fuente schloss mit den Worten: „Ich hoffe, das ist nicht sein letztes Turnier mit der Nationalelf.“

Kapitän Morata ist 31 Jahre alt, und sein Fan de la Fuente wird Nationaltrainer bleiben – warum sollte es das letzte sein? Nun, weil Morata selbst einen Rücktritt als „wahrscheinlich“ bezeichnete. Und weil dahinter eine lange Geschichte steht.

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Ablehnung von den eigenen Fans: Álvaro Morata polarisiert

Der Angreifer von Atlético Madrid ist der Unglücksrabe unter den Himmelstürmern, und das liegt nicht daran, dass er nach dem Halbfinale von einem Security-Mitarbeiter der Spanier verletzt wurde, der im Zweikampf mit einem Flitzer ausrutschte. Das wird Morata im Finale gegen England nicht am Spielen hindern. Aber richtig frei, das spielt er nie, und das liegt daran, dass er im eigenen Land so viel Ablehnung erfährt.

„Mir geht es besser weit weg von Spanien“, oder: „Dieses Jahr spürte ich so große Sehnsucht zu gefallen, dass es nicht mehr gesund war“, oder: „Meine fünfjährigen Kinder (Morata ist Vater von Zwillingen, d. Red.) verstehen nicht, warum so viele Leute eine solche Wut auf ihren Vater haben“. So lauteten einige seiner Sätze vor oder während diesem Turnier, die aus dem Kanon der spanischen Glückseligkeit herausfallen.

Viele Wechsel: Spanischer Stürmer spielt für Real Madrid, Juventus, Atlético

Morata ist müde, den Sündenbock zu geben. Bei den Heimspielen der multinationalen EM 2021 in Sevilla wurde er nach vergebenen Chancen ebenso ausgepfiffen wie im März bei einem Testspiel in Madrid. Dabei wurde es im Bernabéu-Stadion von Real ausgetragen, dem Ort, an dem er seine Karriere begann.

Bei Real begannen allerdings auch schon die Probleme. Morata gab sich nicht zufrieden mit der Rolle als erster Ersatzstürmer, den er im galaktischen Ensemble hinter Spielern wie Cristiano Ronaldo, Karim Benzema oder Gareth Bale ausfüllen sollte. Er ging zu Juventus Turin, kam wieder zurück zu Real, wechselte zu Chelsea, dann zu Atlético, von dort für eine Leihe noch mal zu Juventus, dann zurück zu Atlético. Er hat kein wirkliches Zuhause im Fußball. Und dadurch auch keine Hausmacht.

Spaniens Álvaro Morata (vorne) und Deutschlands Jonathan Tah kämpfen um den Ball.
Spaniens Álvaro Morata (vorne) und Deutschlands Jonathan Tah kämpfen um den Ball. © dpa | Christian Charisius

„Immer Atlético-Fan“? Morata verscherzt es sich mit Real-Anhängern

Mit der Real-Gemeinde verscherzte er es sich, als er nach seiner Ankunft bei Atlético verkündete, er sei „immer Atlético-Fan“ gewesen, habe nur „leider“ in dessen Stadion zuvor „in anderen Trikots spielen müssen“. Die Ultras überzeugte das trotzdem nur so bedingt, dass er zwischenzeitlich lieber wieder nach Italien flüchtete. Dorthin könnte er auch in diesem Sommer wieder wechseln, der AC Mailand gilt als hoch interessiert. Auch wenn er mit einer guten Saison und 21 Toren die Atlético-Fans inzwischen sehr viel zuverlässiger auf seine Seite gezogen hat.

„Seit ich Real verlassen habe, bin ich ein Meme“, klagt Morata. Bei seinen Hatern im Internet scheint es, als stehe Spanien nicht wegen, sondern trotz ihm vor dem EM-Titel. Dabei gehört er mit sieben Treffern zur Gruppe der drittbesten Torschützen der Turniergeschichte hinter Ronaldo und Michel Platini. 2024 traf er zwar bisher erst einmal, aber es war ein sehr wichtiges Tor – das erste im ersten Spiel gegen Kroatien in Berlin, als er cool eine der Eins-gegen-Eins-Situation gegen den Torwart verwandelte, in denen bei diesem Turnier so viele Kollegen scheiterten. Es war das Tor, das Spanien auf die Welle setzte, die es bis zum Finale an selber Stelle geritten ist.

Eindrucksvolle Zahlen auf dem Feld: Im Pressing überzeugt Álvaro Morata

Allerdings kommen dem kräftigen Morata primär sowieso andere Aufgaben zu. Seine Scharmützel mit den Innenverteidigern schaffen Räume für die famosen Außenstürmer Lamine Yamal und Nico Williams oder für die von hinten aufrückenden Dani Olmo und Fabián Ruiz, mit drei respektive zwei Toren bislang Spaniens beste Schützen. Noch fundamentaler ist sein Pressing. Keine andere Mannschaft, das zeigen die Turnierstatistiken, verteidigt so weit vor dem eigenen Tor wie die Spanier und erobert so hoch den Ball, das ist die Basis ihres vielbewunderten Offensivstils. Morata kann laut der Zeitung „El País“ in diesem Sektor mit eindrucksvollen Zahlen aufwarten: Kein anderer EM-Stürmer ist so oft ins Pressing gegangen (28,5 mal pro Partie im Schnitt), kein anderer tat es so schnell nach Ballverlust (5,4 mal pro Partie in den ersten fünf Sekunden) und keiner hat so oft selbst die Kugel ergattert (4,2 mal pro Partie).

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„Engagierter mit der Mannschaft kann man nicht sein“, erklärte Ersatzverteidiger Vivian dieser Tage: „Álvaro beendet die Spiele fast unter Tränen“, so sehr opfere er sich für die Mannschaft. „Ich würde mir eine Hand abschneiden, um die EM zu gewinnen“, sagt Morata selbst. Dass er auch deshalb mal eine Torchance vergeben mag, weil ihn der körperliche Aufwand so erschöpft, rechnen ihm seine Gegner allerdings nicht an. Wegen seiner Fanschelten sehen sie ihn nicht als Märtyrer, sondern als Jammerlappen.

Nach dem Finale will sich Morata zu seiner Zukunft erklären. Sein Trainer lässt so lange nichts unversucht. Als er dieser Tage gefragt wurde, als welcher Fußballer er gern wiedergeboren werden würde, sagte de la Fuente: „Als Álvaro Morata.“