Düsseldorf/Berlin. England sein Elfmetertrauma bei der EM 2024 überwunden. Im Finale gegen Spanien könnte das ein Trumpf sein. Was Englands Elfmeter so stark macht.
Die Elfmeter, sie waren eigentlich noch nie Englands Stärke. Die verlorenen Elfmeterschießen, die herzzerreißenden Überschriften in der britischen Presse, sie lassen sich nur noch schwer zählen. So manch einer mag sich nach dem EM-Viertelfinale gegen die Schweiz (5:3 im Elfmeterschießen) umso verwunderter die Augen gerieben haben: War das wirklich England? Die Briten verwandelten alle fünf Elfmeter - mit einer Präzision und Souveränität, die sie bei ihrem bis dato letzten EM-Elfmeterschießen noch so schmerzlich haben vermissen lassen.
Da standen die Three Lions, ebenfalls unter der Leitung von Trainer Gareth Southgate, im Finale gegen Italien - und das im eigenen Land. Nach einem 1:1 in der regulären Spielzeit ging es damals in Elfmeterschießen, welches die Engländer durch drei Fehlversuche in Serie noch mit 2:3 verloren. Nun stand also das erste Elfmeterschießen bei einer EM seit diesem Drama an. Was hat sich seit der bitteren Pleite gegen Italien bei den Engländern getan?
England im Elfmeterschießen bei der EM 2024: Saka überwindet Trauma
Die größte Auffälligkeit ist zunächst eine Parallele. Bukayo Saka nämlich, der damals wie gegenwärtig zum Elfmeter antrat. Genau wie im Finale von Wembley wählte der junge Flügelflitzer gegen die Schweiz einen kurzen Anlauf, rechts vom Ball versetzt. Nach ein paar Tippelschritten visierte Saka jeweils die rechte Ecke an. Während Donnarumma den schwachen, halbhoch geschossenen Elfmeter vor drei Jahren parieren konnte, schlug die Kugel bei diesem Turnier flach und platziert neben dem Pfosten ein.
„Meiner Meinung nach haben wir mit die besten Elfmeterschützen überhaupt. Wir haben sehr viel Selbstvertrauen, ich bin sehr stolz“, sagte ein glücklicher Saka, der nach seinem entscheidenden Fehlschuss gegen Italien noch Hass und teils rassistische Beleidigungen über sich ergehen lassen musste. „Das ist etwas, das ich angenommen habe. Man kann einen Tiefschlag erleiden, aber man muss wieder aufstehen.“
EM 2024: England-Trainer Southgate setzt erneut auf Einwechselspieler
Und ein weiteres Muster, das in England nach der Pleite von 2021 zu erkennen war, findet sich auch im siegreichen Spiel gegen die Schweiz wieder: Southgate schickte viele (junge) Einwechselspieler zum Punkt. Cole Palmer (22 Jahre), Ivan Toney (28) und Trent Alexander-Arnold (25). Letzterer wurde erst in der 115. Minute, womöglich für das Elfmeterschießen eingewechselt.
Einen ähnlichen Schachzug hatte Southgate auch im Finale 2021 versucht. Da hatte er in der 120. Minute Jadon Sancho (damals 21 Jahre alt) und Marcus Rashford (damals 23) eingewechselt, die dann beide zum Punkt schritten. Während das Duo, wie auch der dritte Joker Saka (damals 19), vergab, ging die Rechnung drei Jahre später auf. Alle Einwechselspieler trafen, Alexander-Arnold versenkte den entscheidenden Elfmeter.
England im Elfmeterschießen: Schüsse bei der EM 2024 viel besser als noch vor drei Jahren
Was beim Vergleich der beiden Elfmeterschießen auffällt: Ihre extravaganten Anläufe haben die englischen Schützen nicht abgelegt. Im Gegenteil. Toney nahm gerade einmal zwei Schritte Anlauf und versenkte den Ball passgenau im linken Eck. Die Wiederholung zeigt: Der 28-Jährige schaute nur auf Torhüter Sommer, nicht auf den Ball.
Was alle fünf englischen Schützen jedoch von denen aus dem Jahr 2021 unterscheidet: Sie setzten ihre Elfmeter extrem platziert. Dazu gelang es vier von fünf Schützen, Sommer zu verladen. Lediglich bei Toneys Elfmeter roch Sommer die Ecke, konnte den Ball aber nicht abwehren.
Im Jahr 2021 waren die letzten drei englischen Elfmeter allesamt schwach geschossen. Während Rashford Donnarumma verladen, dann aber nur den Pfosten getroffen hatte, visierten Sancho und Saka das rechte Eck an - halbhoch. Dankbare Aufgaben für Donnarumma, der beide Schüsse abwehrte und Italien zum Europameister krönte.
EM 2024: Sportpsycholge verrät weitere England-Tricks beim Elfmeterschießen
Der norwegische Sportpsychologe Prof. Dr. Geir Jordet nennt bei „X“ zudem noch vier weitere Punkte, in denen sich die Engländer im Vergleich zur bitteren Finalpleite gegen Italien entwickelt haben:
- Elfmeter-Partner: Jeder Schütze bekam einen Partner aus der Mannschaft zugeteilt. Dieser löste sich nach dem jeweiligen Schuss aus dem Kreis des Teams, um den Schützen zurück in den Kreis zu holen. Im Falle eines Fehlschusses hätte dieser Partner vermutlich den Auftrag gehabt, den Schützen auf dem langen Weg zurück zur Mittellinie aufzubauen.
- Formation im Mittelkreis: Die Engländer standen gegen die Schweiz nicht, wie gemeinhin üblich, in einer Reihe und eingehakt, während sie den Schützen beobachteten. Das lasse mehr Raum, sich gegenseitig zu unterstützen, was wichtiger sei, als nach außen hin besonders unterstützend zu wirken.
- Zusammensetzung der Gruppe: Vor dem Elfmeterschießen scharte Southgate nur seinen Torhüter, die zehn Schützen/Partner und Co-Trainer, die zwingend anwesend sein mussten, um sich. Das habe ihm einen besseren Überblick verschafft und zudem die Zuteilung der Pärchen erleichtert.
- Psycho-Spielchen mit Pickford: Der englische Torhüter Jordan Pickford gab dem jeweiligen Schützen den Ball - wie im Finale 2021. Neu war gegen die Schweiz, dass der Torhüter nach Abgabe des Balles noch einmal den Strafraum betrat, um, gemeinsam mit dem Schützen, Yann Sommer mit Blicken zu verunsichern. Schiedsrichter Daniele Orsato verbot diese Praxis im Verlauf des Elfmeterschießes.
Da verwunderte es kaum, dass Harry Kane im EM-Halbfinale gegen die Niederlande am Mittwoch, 10. Juli, das zwischenzeitliche 1:1 per Elfmeter markierte. Mit seinem Treffer zum 2:1 in der Nachspielzeit schickte Joker Ollie Watkins England sogar noch in der regulären Spielzeit ins EM-Finale. Da geht es nun am Sonntag, 14. Juli, 21 Uhr, gegen Spanien. Und wer weiß: Vielleicht krönen sich die Briten ja tatsächlich vom Punkt aus zum Europameister. Es wäre das Ende zahlloser Serien und Mythen - angefangen dabei, dass die Elfmeterschießen grundsätzlich immer an den Gegner gehen.
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