Hamburg. Die Herrentennisorganisation ATP startet am Rothenbaum einen Modellversuch: Spieler dürfen sich während der Matches coachen lassen.
Er ist der Tennisprofi, der weltweit am meisten polarisiert. Wäre Nick Kyrgios bei den Hamburg European Open am Start, dann hätte sein Wehklagen über angebliche Benachteiligung endlich einmal Berechtigung. Ohne Frage wäre der 27 Jahre alte Wimbledonfinalist aus Australien am Rothenbaum außen vor, wenn auch selbst gewählt.
Schließlich hat die Herrentennisorganisation ATP Hamburg als Startpunkt eines interessanten Modellversuchs ausgewählt. Die Spieler dürfen sich während laufender Matches von ihren Trainern coachen lassen – bislang ein Strafbestand, der mit Verwarnungen bis hin zum Punktabzug geahndet wurde. Kyrgios aber hat keinen Trainer.
Tennis: Viele halten Anpassung für angemessen
Damit ist das „Enfant terrible“ der Szene zwar ein Exot, was im Umkehrschluss aber nicht bedeutet, dass alle anderen Profis die Zäsur gutheißen. Traditionalisten wie Rafael Nadal (36/Spanien) glauben, dass ihr Sport mit der Regeländerung ein wichtiges Alleinstellungsmerkmal aufgibt. „Der Trainer ist im Tennis wie ein Lehrer, der seinen Schülern so lange hilft, bis die Prüfung beginnt“, begründet Nadals Coach Carlos Moya seine Sicht.
Allerdings scheint er damit eine Minderheitenmeinung zu vertreten. Die Majorität der auf der ATP-Tour engagierten Profis und Coaches hält die Anpassung, die die Damentour WTA schon vor Jahren gemacht hatte, für dem Wandel der Zeit angemessen. Ein wichtiger Grund dafür ist, dass die Vorschriften immer wieder unterlaufen wurden. „Durch die Anpassung der Regel schafft die ATP mehr Klarheit für die Spieler und Trainer, aber auch für die Schiedsrichter“, sagt Michael Kohlmann.
„On-Court-Coaching“ noch nicht zugelassen
Der Daviscup-Teamchef kennt das Thema Coaching aus einer ganz eigenen Perspektive. Im Daviscup, der vom Weltverband ITF organisiert wird, ist die Kommunikation zwischen Trainer und Spieler in den Pausen sogar auf der Bank gestattet, wo die Teamchefs sitzen. Dieses „On-Court-Coaching“ will die ATP noch nicht zulassen. Aktuell muss der Trainer in der ihm zugewiesenen Box in einer Ecke des Courts sitzen – am Rothenbaum sind diese Boxen am Fuß der Osttribüne vorgesehen.
Dort darf er verbalen Kontakt zu seinem Schützling haben, wenn dieser in derselben Ecke steht – aber nur in einer Form, die weder das Spiel unterbricht noch den Gegner behindert. Zeichen sind dagegen während des gesamten Spiels erlaubt. Die Kontaktperson muss dieselbe sein, nicht aber zwingend der Cheftrainer.
„Auf die Matches wird es keinen großen Einfluss haben“
Jan-Lennard Struff (32/Warstein) hält die Anpassung für eine gute Neuerung. „Kommunikation ist wichtig, und solange alles in einem moderaten Rahmen bleibt, halte ich das Coaching für eine gute Hilfe“, sagt der Daviscupspieler. „Jeder Spieler ist anders, individuelle Ansprache ist notwendig. Ganz wichtig ist, dass sich alle eine Kommunikationsstruktur zurechtlegen und wissen, was ihnen hilft und was nicht“, sagt Michael Kohlmann, der glaubt, dass sich gar nicht allzu viel ändern wird. „Auf die Matches wird es keinen großen Einfluss haben.“
Dem kann Barbora Krejcikova (26) nur beipflichten. „Manchen, so wie mir zum Beispiel, hilft es, sich im Spiel neu einzustellen, andere brauchen das gar nicht. Aber es hat sich bei uns nicht viel verändert, seit das Coaching erlaubt ist“, sagt die tschechische French-Open-Gewinnerin von 2021, die am Rothenbaum im Viertelfinale steht.
Tennis: Neuerung soll bis November getestet werden
Die ATP möchte die Neuerung zunächst bis einschließlich der ATP-Finals in Turin im November testen und anschließend auswerten. Kohlmann hofft schon jetzt, dass sie nicht nur beibehalten, sondern im Sinne der Chancengleichheit auch auf die nachrangige Challengertour ausgeweitet wird. Aktuell ist diese noch nicht inkludiert, weil sich dort nicht jeder Profi einen eigenen Coach leisten könne.
Ob sich Nick Kyrgios für die Veränderungen interessiert, ist nicht bekannt. Fakt ist, dass Hamburger Tennisfans vom 13. bis 18. September Zeugen eines seltenen Spektakels werden können. Dann tritt der Australier mit seinem Nationalteam am Rothenbaum zur Daviscup-Zwischenrunde an – und hat einen Trainer neben sich, der nicht zu beneiden sein wird.