Blankenhain. Die Ostvereine erlebten in den vergangenen Jahren einen bitteren Absturz. Der Nachwuchs müsste eigentlich Hoffnung machen. Oder nicht?

Ulf Mehlhorn lacht am Telefon verlegen. „Aktuell ist kein neuer Michael Ballack in Sicht“, sagt Mehlhorn, Nachwuchs-Chef des Chemnitzer FC. Als Stadt wie Verein noch den Namen von Karl Marx trugen, wechselte Ballack, viele Jahre Deutschlands einziger Weltklasse-Spieler, in die Nachwuchsabteilung des Klubs. Hier, ganz im Osten des Landes, das damals noch geteilt war, begann eine große Karriere.

Und da war ja nicht bloß Ballack. Die erste Fußballer-Generation nach dem Mauerfall, die Anfang der 2000er den Kern der deutschen Nationalmannschaft bildete, hatte ihre Wurzeln im Osten. Die Spieler bekleideten auch in ihren späteren West-Klubs wichtige Funktionen. Jens Nowotny gab bei Bayer Leverkusen den Abwehrchef. Carsten Ramelow pflügte durchs Mittelfeld. Jens Jeremies hielt bei Bayern München und beim DFB den Künstlern den Rücken frei. Bernd Schneider verzückte als „weißer Brasilianer“. Nach der Wiedervereinigung kündigte Franz Beckenbauer an, dass eine gesamtdeutsche Mannschaft auf Jahre unschlagbar sei.

Nur noch zwei Ostvereine in den ersten zwei Ligen

Doch die großen Klubs aus dem Osten sind mittlerweile tief gefallen. Der FC Magdeburg stand in dieser Saison im Zweitliga-Tabellenkeller, Hansa Rostock ist abgestiegen. Im Traditions-Sammelbecken der Dritten Liga tummeln sich Dynamo Dresden und Erzgebirge Aue. Der Hallesche FC ist abgestiegen und spielt künftig in der Regionalliga gegen Michael Ballacks Ausbildungsverein Chemnitz. Einziger Erstligist ist Union Berlin.

Einige Gründe haben dazu geführt. Nach der Wende lockte das Geld aus dem Westen viele Spieler an. Nur zwei Klubs aus der DDR-Oberliga, Dynamo Dresden und Hansa Rostock, wurden in die Bundesliga aufgenommen. Finanzstarke regionale Unternehmen, die ihre Vereine vor der Tür fördern konnten, gab es nicht. Was bedeutet das für den deutschen Fußball im Jahr 2024?

Noch bis Freitag bereitet sich die die DFB-Elf im Weimarer Land in Thüringen, unweit der Regionalligisten Rot-Weiß Erfurt und Carl-Zeiss Jena, auf die Europameisterschaft vor. Fünf Spieler sind im Gebiet des Nordostdeutschen Fußballverbandes (NOFV) geboren, das die ehemalige DDR und Berlin umfasst: Der Greifswalder Toni Kroos (34) wurde bei Hansa Rostock ausgebildet. Maximilian Beier, 21 und geboren in Brandenburg an der Havel, war drei Jahre in der Jugend von Energie Cottbus aktiv, ehe er zur TSG Hoffenheim wechselte. Robert Andrich, 29, ist Potsdamer, spielte aber für den Westklub Hertha BSC. Genauso wie der Berliner Maxi Mittelstädt, 27. Antonio Rüdiger, 31-jähriger Neuköllner, kickte für einige Berliner Amateurklubs und wechselte dann ins Nachwuchszentrum von Borussia Dortmund.

Ostklubs haben Probleme, ihre Talente zu halten

194 von rund 880 deutschen U-Nationalspielern, die in den vergangenen zehn Jahren für den DFB aufliefen, stammen fußballerisch aus den neuen Bundesländern, aus dem NOFV – fast ein Viertel also, und damit überproportional viele. In die Statistik allerdings fließen eben auch Jugendliche von Hertha und RB Leipzig, dem in Österreich am Reißbrett von Red Bull entworfenen Konstrukt – keine klassischen Ostklubs also. Diese nämlich hätten Schwierigkeiten, „unsere besten Jungs zu halten“, sagt Ulf Mehlhorn, der Chemnitzer Nachwuchs-Chef. „Wir sind ja nicht die einzigen, denen es in Ostdeutschland so geht.“

Man hört viele dieser Einschätzungen, wenn man mit Entscheidungsträgern aus den Ost-NLZs spricht. RB Leipzig wird häufig als besonders aggressiver Akteur auf dem Spielermarkt bezeichnet. Pikant ist, dass sich Red Bull selbst als Bereicherung für die Nachwuchsförderung des ostdeutschen Fußballs inszeniert hat. Nur: Die Durchlässigkeit zu den eigenen Profis ist sehr gering.

DFB hat sich der Problematik angenommen

Der Deutsche Fußball-Bund hat sich dem Thema angenommen. Das frühe Abwerben von Jugendspielern, sagt Markus Hirte, sei aber „nicht nur ein Phänomen im Osten“. Hirte ist seit 2016 der Leiter der Talentförderung des Verbandes. „Es ist sicherlich ein Manko, wenn Spieler aus dem persönlichen Umfeld herausgerissen werden. Wir sind in Gesprächen, die bestehende Einigung zwischen den NLZ zu schärfen und vor allem die Wechsel einzuschränken, die sehr früh und über eine große Entfernung stattfinden“, sagt Hirte im Gespräch mit dieser Redaktion.

Besonders, weil eine vergleichende Studie aller fünf europäischen Top-Ligen auch zu dem Ergebnis kam, dass die meisten späteren Spitzenspieler nur in einem NLZ gespielt haben. Das Ziel: „Wir möchten so die kleinen Leistungszentren in eine bessere Position bringen.“

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Hirte ist es wichtig zu betonen, „dass die Strukturen im Osten nicht schlechter“, seien. „Es ist sogar so: Die Kombination aus Leistungssport und Schulen, die auf den Sport ausgerichtet ist, gibt es in vielen anderen Bundesländern in dieser Form kaum.“ Warum können die Vereine vor Ort offenbar nicht profitieren?

Was der Talente-Chef des Verbandes sagt

Ein Ansatz, ist dass sich viele Klubs im Osten in einer ähnlichen Situation befinden, die es zwar auch im Westen gibt, aber nicht so flächendeckend: Die Traditionsvereine führen den ständigen Existenzkampf, irgendwo zwischen Zweiter und Vierter Liga. „Dann zu sagen, wir setzen nachhaltig auf Talente, ist nicht einfach“, sagt Talente-Chef Markus Hirte. „Dennoch denke ich, dass viel Potenzial für die Traditionsvereine im Osten in der eigenen Jugendarbeit liegt. Vor allem im Übergangsbereich kann ich nur dazu ermutigen, mehr Zutrauen zu den jungen Spielern zu haben und so einen Impuls zu setzen.“

Wie Michael Ballack mal in Chemnitz. Ehe ihn sich der 1. FC Kaiserslautern aus dem Westen gekrallt hat.