Melbourne. Alexander Zverev dominiert lange seinen Gegner Daniil Medwedew. Doch am Ende schwinden seine Kräfte. Er verpasst das Finale.

Alexander Zverev blickte geknickt zu Boden, als er ein paar Minuten nach Mitternacht den sogenannten „Walk of Fame“ in der Rod-Laver-Arena entlang schritt. Links und rechts an den Wänden sind dort die Stars und Superstar der Tenniswelt aufgereiht, die vergangenen Champions der Australian Open. Zverev wollte partout nicht mehr hinsehen zu den Siegertypen, auch nicht zum Porträt von Boris Becker, der 1996 der letzte deutsche Herren-Gewinner gewesen war. Er wollte eigentlich nur noch so schnell wie möglich weg von einem Schauplatz bitterer Enttäuschung, an dem er zum zweiten Mal in seiner Karriere bei einem Major-Wettbewerb einen verlockenden 2:0-Satzvorsprung vergeben hatte.

2020 war ihm das US Open-Finale gegen seinen Freund Dominic Thiem noch aus den Händen geglitten, nun kam das dicke Ende statt einem Happy-End gegen seinen Erzrivalen Daniil Medwedew – 7:5, 6:3, 6:7 (4:7), 6:7 (5:7) und 3:6 lauteten die nüchternen Zahlen zum fatalen Scheitern des 26-jährigen Hamburgers. Erst war Zverev in dieser Grand Slam-Achterbahnfahrt mehrfach nur noch ein Spiel vom Triumph entfernt, dann im Tiebreak des vierten Satzes bei 5:4-Führung und eigenem Aufschlag sogar nur noch zwei Punkte. Er sei leicht geschwächt gewesen von einer Erkältung und Fieber in der Nacht vor dem Match: „Die Kräfte gingen ein bisschen weg ab dem dritten Satz. Ich war nicht mehr bei 100 Prozent, auch wenn ich diese Chancen später noch hatte.“

Becker lobt Zverev nach Niederlage gegen Medwedew

Gewinnen konnte er das neuerliche Drama nach den vorherigen Viertelfinal-Aufregungen gegen Carlos Alcaraz nicht, den 326. und allerletzten Punkt in dem aufreibenden Australian Open-Thriller machte der unberechenbare Moskowiter. „Sascha hat das Spiel über weite Strecken dominiert. Das war beinahe vier Stunden Weltklasse von ihm“, befand TV-Experte Boris Becker, „aber zum Schluß hat er zuviele Big Points ziehen lassen.“ Trotzdem mache Zverevs Gesamtauftritt „viel Hoffnung“ für die Saison: „Er wird überall ein Wörtchen mitsprechen.“

Faire Gratulation: Alexander Zverev und Daniil Medwedew.
Faire Gratulation: Alexander Zverev und Daniil Medwedew. © dpa | Alessandra Tarantino

Medwedew sammelte zwar vier Punkte weniger als Zverev ein (161: 165), aber schließlich war er es, der eine Verwandlung vom plan- und ideenlosen Centre Court-Streiter zum taktisch wie mental überlegenen Kämpfer mit einem Prestigesieg krönte. Im Finale wird der 27-jährige Russe überraschend auf Italiens Himmelsstürmer Jannik Sinner (22) treffen, der den zehnmaligen Melbourne-König Novak Djokovic souverän mit 6:1, 6:2, 6:7 und 6:3 aus dem Titelrennen katapultierte. Sinner gilt nun als heißer Titelfavorit, nicht zuletzt auch wegen des deutlich geringeren Kraftaufwands beim Erreichen des Finales. Der junge Südtiroler war schon mit dem Rückenwind eines starken Herbstes 2023 nach Australien gekommen, auch eine Niederlage bei den ATP-Finals gegen Djokovic verkraftete er unbeirrt und fügte dem Serben jetzt im National-Tennis-Center am Yarra River die erste Niederlage nach zuvor 33 Siegen zu.

Zverev dominierte Partie gegen Medwedew lange

Vor einem Jahr war Alexander Zverev als Grand Slam-Rückkehrer nach seiner schweren Bänderverletzung (French Open 2022) in der zweiten Australian-Open-Runde am Amerikaner Michael Mmoh gescheitert – es war der müsame Auftakt zu einem langen Comeback-Marsch, der hier in Melbourne beinahe einen herausragenden End- und Höhepunkt gefunden hätte. Zwei Sätze lang, ganz nach dem Drehbuch des Sieges gegen Wimbledon-Champion Alcaraz zuvor, dominierte Schnellstarter Zverev die Partie, Medwedew, komplett chancenlos, signalisierte da zwischendrin sogar zu seiner Box, er wolle am liebsten aufhören. „Ich war total draußen aus dem Match. Dann dachte ich aber, ich muss mich anstrengen. Um wenigstens ein bisschen stolz auf mich zu sein.“

Es war einfach so, dass ich in der Endphase körperlich nicht mehr der Spieler war aus den ersten beiden Sätzen. Ich fühlte mich krank.
Alexander Zverev

Zverev hatte, als es hart auf hart ging in den alles entscheidenden Momenten, erst kein Glück. Und dann kam auch noch Pech hinzu. Bei 5:5-Gleichstand im Tiebreak des vierten Satzes war der Goldmedaillengewinner von Tokio besagte zwei Punkte vom Finale entfernt, von der Chance auf den ersten Grand Slam-Titel. Aber ein halb verunglückter Return von Medwedew landete plötzlich so knapp hinterm Netz – wie ein Stopp -, dass Zverev nicht mehr an den Ball heran kam. Statt Matchball für den Deutschen also Satzball für Medwedew, den der mit einem Ass nutzte. Es war, im nachhinein, die alles entscheidende Minute in dieser vier Stunden und 18 Minuten langen Partie, die Zverevs Grand-Slam-Bilanz nach 2:0-Satzvorsprung von 56:1 auf 56:2 stellte. „Es war einfach so, dass ich in der Endphase körperlich nicht mehr der Spieler war aus den ersten beiden Sätzen. Ich fühlte mich krank.“

Im fünften Satz, schon lange, lange Zeit nach den ersten Siegmöglichkeiten, kassierte Zverev im fünften Spiel das auf einmal nicht mehr überraschende Break zum 3:2. Und bei einem 3:5-Defizit flutschte ihm noch einmal der Aufschlag aus den zittrigen Händen. Fast typisch aber für Glück und Pech in dieser verflixten Abendshow war das Ende – bei 30:40 und Matchball Medwedew klatschte eine Vorhand des Deutschen an die Netzkante und von dort ins Aus. Seinen Frust will Zverev, wie er später erklärte, schon am nächsten Wochenende, wieder auf der heimischen Seite der Welt, los werden – beim Davis Cup-Auswärtsspiel der deutschen Mannschaft im ungarischen Tatabanya.