Melbourne. Der Hamburger Tennis-Profi schlägt bei den Australian Open in einer teils brillanten Vorstellung den Spanier Carlos Alcaraz.

Was war Alexander Zverev (26) nicht alles in diesem elektrisierenden Centre Court-Drama von Melbourne? Erst sah er wie der sichere, selbstbewusste, souveräne Viertelfinalsieger gegen Carlos Alcaraz (20) aus, sogar wie ein kommender Australian-Open-Champion. Dann wie der mögliche tragische Verlierer der Nachtshow in der Rod-Laver-Arena, der auf der großen Grand-Slam-Bühne noch einen haushohen 6:1, 6:3, 5:2-Vorsprung verspielen könnte. Schließlich auch wie ein verletzt angeschlagener Kämpfer, der sich jenseits von Mitternacht mit letzter Kraft und trotz schmerzhafter Blutblasen unter den Füßen gegen das bittere Aus stemmte.

Seine wichtigste Rolle allerdings stand dann nach drei Stunden und acht Minuten dieser abenteuerlichen Tennisreise fest, die des sehr müden, aber sehr glücklichen Gewinners des packenden und mitreißenden Centre-Court-Duells. „Es war schon in Ordnung. Ich bin zufrieden“, sagte Zverev mit gespieltem Understatement und leichtem Schmunzeln nach dem verrückten 6:1, 6:3, 6:7 (2:7), 6:4-Sieg über den amtierenden Wimbledonkönig und Weltranglisten-Zweiten Alcaraz. Zu Beginn seiner zehnten Saison als Tennisprofi überwand Zverev auch den schier ewigen Fluch, gegen die nominell Größten der Branche bei den wichtigsten Leistungsmessen nicht gewinnen zu können.

Zverev feiert ersten Sieg bei Grand-Slam-Turnier gegen einen Top-5-Spieler

Denn der Triumph der Willenskraft im Vergleich mit Alcaraz, dieser Erfolgsmoment gegen alle zwischenzeitlichen Zweifel, war tatsächlich der erste Grand-Slam-Karrieresieg Zverevs gegen einen Top-5-Spieler. „Zweieinhalb Sätze hat er gespielt wie jemand, der den Titel von Melbourne gewinnen kann“, lobte TV-Experte Boris Becker, „und am Ende hat er riesige Moral bewiesen.“ Nun wartete in der Runde der letzten Vier der Russe Daniil Medwedew auf Zverev, eine Art Angstgegner des Olympiasiegers, der in der vergangenen Saison fünf von sechs Partien gegen Zverev gewonnen hat.

Carlos Alcaraz verabschiedet sich nach dem Spiel gegen Zverev.
Carlos Alcaraz verabschiedet sich nach dem Spiel gegen Zverev. © Getty Images | Julian Finney

Tatsächlich hätte nach dem fatalen Verlauf des dritten Satzes, nach der verspielten 5:2-Führung, kaum noch jemand auf Zverev als potenziellen Halbfinalisten gesetzt. Zumal der 26-jährige Hamburger nach dem erneuten Umschwung – er hatte auch noch eine 2:0-Führung im Tiebreak ungenutzt verstreichen lassen – körperlich und mental angeschlagen wirkte. Offenbar spürte er in Form seiner „fiesen, fiesen Blutblasen“ die Hypothek, vor dieser Partie bereits fünf Stunden länger als Alcaraz für den Viertelfinaleinzug gebraucht zu haben. „Nur ein Wunder“, so befand da Beobachter Mats Wilander, der frühere schwedische Nummer-1-Spieler, könne Zverev jetzt noch vor dem Aus bewahren.

Alexander Zverev spielt mutig und couragiert

Doch in der Not besann sich Zverev auf die Qualitäten, die ihn in den ersten 100 Minuten dieser völlig unberechenbaren Partie überragend stark gemacht hatten. Zverev wurde in der Verzweiflung noch einmal aggressiver, mutiger, couragierter. Wartete nicht auf irgendwelche Fehler seines sechs Jahre jüngeren Rivalen – und fand bei aller Power auch die nötige Präzision, um wieder regelmäßiger zu punkten. „Gibst du Carlos die Luft zum Atmen, wird es fast unmöglich, gegen ihn zu bestehen“, sagte Zverev später, „da habe ich dann noch einmal das Herz in die Hand genommen.“ Beim 4:4-Gleichstand in Satz 4 gelang ihm schließlich das vorentscheidende Break. Und anders als im dritten Durchgang, als ihm bei einer 5:3-Führung und Aufschlag die Nerven geflattert hatten, brachte er das allerletzte Spiel mit dem 125. von 228 gespielten Punkten durch.

Immer da: Alexander Zverev.
Immer da: Alexander Zverev. © Getty Images | Julian Finney

Es war um 1.21 Uhr in aller Herrgottsfrühe auch der alles in allem verdiente Sieg für einen Zverev, der in dieser Nachtshow die Dämonen des US-Open-Finales von 2020 verscheuchte. Bis in das Melbourne-Viertelfinale an diesem 24. Januar hinein hatte er nur eins von 55 Grand Slam-Matches nach einer 2:0-Satzführung verloren, eben jenes Endspiel im New Yorker Geisterhaus zu Corona-Zeiten – gegen den österreichischen Kumpel Dominic Thiem. Damals musste er seinen großen Lebenstraum als Grand Slam-Champion noch begraben, jetzt ist er bei diesen Offenen Australischen Meisterschaften des Jahres 2024 noch intakt.

Einfach wird der Weg zum Turniersieg aber nicht. Im Halbfinale geht es gegen den Zermürbungskünstler Medwedew. Und dann womöglich noch im Finale entweder gegen Grand Slam-Rekordmann Novak Djokovic oder den aufstrebenden Youngster Jannik Sinner, die Protagonisten des anderen Vorschlussrunden-Matches. 16 Stunden und 55 Minuten hat Zverev in diesem Jahr bereits auf den Hartplätzen in Melbourne gestanden, inzwischen mit ziemlich schmerzenden Füßen. Aber, so Zverev, „lieber laufe ich hier mit Schmerzen herum, als zu Hause herumzusitzen.“