Essen. Franz Beckenbauer ist im Alter von 78 Jahren gestorben. Der deutsche Fußball verliert seine größte, schillerndste Figur. Ein Nachruf.
Franz Beckenbauer war eigentlich schon fast wieder weg, der Terminkalender war eng getaktet damals, im Dezember 2004. Die Weltmeisterschaft 2006 warf bereits ihren gewaltigen Schatten voraus, und da war natürlich auch der Chef des Organisationskomitees ständig gefordert. Er reiste zwar noch nicht mit dem Hubschrauber durch die Republik, wie später im WM-Sommer 2006, dafür aber mit einem fünf Meter hohen und 60 Tonnen schweren Globus, den der Künstler André Heller ersonnen hatte und der Vorfreude wecken sollte auf das Turnier.
Und nun waren Beckenbauer und der Globus auf den Heinrich-König-Platz nach Gelsenkirchen gekommen – und Beckenbauer war eigentlich schon wieder weg. Aber da war noch der junge Mitarbeiter vom Lokalradio, der dringend eine Aussage des Kaisers brauchte, wenn der schon einmal in Gelsenkirchen war. „Herr Beckenbauer, ein Satz bitte!“, rief er und Beckenbauer sagte natürlich diesen einen Satz, lobte die Stadt Gelsenkirchen und die damals noch recht neue Schalker Arena für deren wichtige Rolle bei der WM-Bewerbung. Dann war der Kaiser verschwunden, der Reporter aber glücklich.
Franz Beckenbauer war Prototyp des modernen Liberos
Stets nahbar, obwohl er die höchsten Höhen erreichte – das war Franz Beckenbauer. Und damals, im Jahr 2004, auch noch der Mann, der einfach richtig machte, was er nur anpackte, dem alles gelang, im Kleinen mit dem jungen Radioreporter und auf der großen Fußballbühne sowieso. Erst als Spieler, dann als Trainer und Funktionär. Er war Kaiser und Lichtgestalt, Werbeikone und Lebemann, Prototyp des modernen, offensiven Liberos , beherrschte den Ball, ohne sichtbar ins Schwitzen zu geraten. Der Mann, der die Weltmeisterschaft nach Deutschland holte, die der Welt und den Deutschen selbst ein neues, freundliches, unverkrampftes Gesicht des Landes zeigte. Der dann 2006 mit seinem Hubschrauber von Spiel zu Spiel eilte, um möglichst dauerpräsent zu sein, und dabei gleich noch die Regenwolken vertrieb.
Und, nicht zu vergessen: 1994 im ZDF-Sportstudio versenkte er einen auf einem Weißbierglas ruhenden Ball rechts unten in der Torwand. „Dem Mann glückt alles“, staunte Moderator Dieter Kürten. Alles scheinbar mühelos, obwohl Beckenbauer doch stets betonte, wieviel harte Arbeit hinter dem Erfolg steckte. Deswegen mochte er die Bezeichnung Lichtgestalt nicht sonderlich, aber Lichtgestalt war er und Lichtgestalt bleibt er, auch wenn die Sommermärchen-Affäre unschöne Schatten warf. Nun ist Franz Beckenbauer im Alter von 78 Jahren gestorben.
Nur Zagallo, Deschamps und Beckenbauer waren Weltmeister als Spieler und Trainer
Der deutsche Fußball verliert seine größte, erfolgreichste, schillerndste Figur. Beckenbauer hatte als Spieler gewonnen, was es zu gewinnen gab und war als Trainer nicht viel weniger erfolgreich. Müßig, alle Titel aufzuzählen. Weltmeister als Spieler und Trainer, das wurden neben ihm nur Mario Zagallo und Didier Deschamps. Und neben Sepp Maier war Beckenbauer der einzige europäische Spieler, der als Spieler sowohl Welt- und Vizeweltmeister als auch Europa- und Vizeeuropameister wurde.
Die Vollendung erfolgte dann im Juli 2000, als die Weltmeisterschaft 2006 nach Deutschland vergeben wurde – zumindest schien es damals so. Beckenbauer war als Botschafter und Vorsitzender des Bewerbungskomitees ein Vater des Erfolgs: Er hatte die ganze Welt bereist, um Stimmen geworben – und konnte davon überaus unterhaltsam erzählen.
Franz Beckenbauer spielte barfuß, mit Tennisbällen und Dosen
Beckenbauer, der Weltbürger – darauf deutet wenig hin, als er am 11. September 1945 im Münchener Arbeiterviertel Giesing als zweiter Sohn des Postobersekretärs Franz Beckenbauer senior und dessen Frau Antonie geboren wird. Die Vierzimmerwohnung teilen sie sich mit der Großtante, einer Tante und deren beiden Kindern. Giesing wird ihn prägen, auch später, als er aus steuerlichen Gründen in Österreich wohnt, wird er nach Spielen des FC Bayern im alten Zuhause übernachten, wird die Sportschau schauen und von seiner Mutter zu hören bekommen, dass er zu wenig isst. Am meisten aber prägt ihn der Fußballplatz gleich vor der Tür.
Der kleine Franz kickt mit allem, was man eben so bekommt im München der Nachkriegszeit: Dosen, Tennisbälle, hin und wieder doch ein echter Lederball. Oft spielt er barfuß, was ihm blutige Zehen einträgt – und eine feine Technik: „Die Fertigkeit mit dem Ball umzugehen, kam so natürlicher als mit Fußballschuhen“, sagte er mal selbst.
Eine Ohrfeige führte Franz Beckenbauer zum FC Bayern
Und die Fertigkeit ist im Übermaß vorhanden, schon auf der Straße zählt er früh zu den Besten, beim SC 1906 München ebenso. Als Giesinger ist der Weg zu 1860 München vorgezeichnet, bis es zur folgenschwersten Ohrfeige der deutschen Fußballhistorie kommt: „Mit unserer 1906-Schülermannschaft hatten wir ein Spiel gegen 1860“, erzählt Beckenbauer später. „Deren Mittelläufer war nicht sehr freundlich zu mir, und im Spielverlauf kam irgendwann mein Jähzorn durch. Er gab mir dann eine Watschn, und da stand für mich fest: Ich geh nicht zu 1860! Es war keine schlechte Entscheidung im Nachhinein, denke ich.“ Der erboste Beckenbauer schließt sich mit 13 Jahren dem FC Bayern an, und der Rest ist Fußballgeschichte.
1965 gelingt der Aufstieg in die Bundesliga, 1966 bei der WM in England der Durchbruch zum Weltstar. „Auf dem Platz hat ihn Intelligenz mehr ausgezeichnet als Kraft“, lobte die brasilianische Ikone Pelé einmal. „Er war mehr ein brasilianischer als ein deutscher Fußballer.“ Und kraft seines Talents, seines Ehrgeizes und seiner Aura schwingt er sich schnell auf zum unumstrittenen Anführer. „Wenn Beckenbauer gesagt hat, eins und eins ist drei, dann war das eben so“, sagte Bernd Hölzenbein über seinen Kapitän bei der WM 1974. „Wenn er erklärt, dass der Ball eckig ist, dann glauben ihm das alle“, meinte Otto Rehhagel.
Beckenbauers legendäre Spottreden über Rumpelfußball und Uwe-Seeler-Traditionself
Rehhagel bekam selbst zu spüren, dass der Fußballfeingeist Beckenbauer nicht immer nur nett war: „Der Rehhagel ist ein erstklassiger Trainer – zumindest in der zweiten Liga.“ Schneidende Beleidigungen, vorgetragen im charmanten Plauderton – das konnte Beckenbauer. Nach einem missglückten Auftritt der Nationalmannschaft etwa: „Wissen Sie, wer mir am meisten leidtat? Der Ball.“ Legendär seine Spottreden von Rumpelfußball und Uwe-Seeler-Traditionself oder dem Niveau Obergiesing gegen Untergiesing – wobei er danach erkannte: „Eine Stunde später habe ich gedacht: Was hast du da wieder für einen Blödsinn erzählt?“ Blödsinn waren auch unglückselige Aussagen zu den Menschenrechten in Katar und dem Olympiastadion, als der Kaiser laut darüber nachdachte, dass doch irgendein Terrorist das geschichtsträchtige Stadion wegsprengen könne, um Platz für eine neue Fußballarena zu machen – da wirkte seine „zynische Wurschtigkeit“, wie die Süddeutsche Zeitung einmal formulierte, dann ziemlich aus der Zeit gefallen.
Aber dem Franz war die Öffentlichkeit nie lange böse, auch nicht, als zu den drei Kindern mit zwei Frauen plötzlich noch ein viertes kam, und zwar nicht mit der damaligen Ehefrau Sybille, sondern Heidrun Burmester, Sekretärin des FC Bayern. „Der liebe Gott freut sich über jedes Kind“, lächelte der Katholik Beckenbauer die Sache weg. Später heirateten die beiden und bekamen noch ein weiteres Kind.
Dubiose Geldflüsse um die WM 2006 warfen einen Schatten auf die Lichtgestalt
Aber selbst der Kaiser konnte nicht mehr weglächeln, was das Nachrichtenmagazin Der Spiegel im Jahr 2015 enthüllte, nämlich dubiose Geldflüsse rund um die Bewerbung zur WM 2006. 6,7 Millionen Euro, ein Darlehen des damaligen Adidas-Chefs Robert Louis-Dreyfus, war über dunkle Kanäle in Katar versickert. Zu groß war die Nähe zu dunklen Gestalten wie Jack Warner und Mohammed Bin Hammam, Vorwürfe von Korruption und Stimmenkauf standen im Raum, die Schweizer Bundesanwaltschaft ermittelte. Zum Prozess aber kam es nicht mehr – weil Beckenbauers Ärzte schon 2019 erklärten, dass jede Aufregung lebensgefährlich sein könnte.
In der Folge machte sich Beckenbauer rar, die öffentliche Kritik hatte ihn hart getroffen, der Tod des Sohnes Stephan mit 46 ebenso, und die Gesundheit machte ihm zu schaffen: „Ich hatte auf einem Auge einen sogenannten Augeninfarkt“, erklärte er im Dezember 2022 dem Magazin Bunte. „Rechts sehe ich leider nichts mehr. Damit komme ich klar. Und mit dem Herzen muss ich aufpassen.“ Zur Trauerfeier für Pelé im Januar 2023 konnte er schon nicht mehr fliegen. Und nun hat das Herz aufgehört zu schlagen.