Rom. Die EM-Qualifikation verlief für Italien bislang kompliziert. Dank des 5:2-Siegs gegen Nordmazedonien ist die Hoffnung nun groß.
Italien atmet auf. „Das Tor zu Europa ist aufgestoßen“, titelte erleichtert die Gazzetta dello Sport nach dem 5:2 gegen Nordmazedonien. Erreicht ist Europa, also die EM-Endrunde in Deutschland, für den Titelverteidiger aber noch nicht. Dazu bedarf es am Montag in Leverkusen mindestens eines Remis gegen die Ukraine.
In früheren Jahren wäre das keine Zeile wert gewesen. Italien war bekannt für Minimalergebnisse mit überschaubarem Aufwand. Verantwortlich dafür waren Defensivgrößen wie Gaetano Scirea, Paolo Maldini oder Fabio Cannavaro und Goalgetter wie Paolo Rossi, Luca Toni oder Salvatore Schillaci. Männer von diesem Kaliber gibt es momentan nicht. Und mit Rossi, dem WM-Helden von 1982, hat die jetzige Generation bestenfalls den Hang zum Zocken gemein. Mittlerweile vier Nationalspieler wurden wegen Zockerei und Wetten auf illegalen Plattformen von der Staatsanwaltschaft Turin vernommen. Ob es bis zum EM-Start noch mehr werden, weiß niemand.
Karussel der Emotionen gegen Nordmazedonien
Auch auf die alten Trotzqualitäten wie 2006 mit WM-Sieg nach Bestechungsskandal ist kein Verlass mehr. Nach dem Besuch der Polizei im Trainingsquattier Coverciano gab es ein ernüchterndes 1:3 gegen England.
Das 5:2 gegen Nordmazedonien sorgte im Karussell der Emotionen für etwas Erleichterung. „Wir haben Fortschritte gemacht. Über 90 Minuten waren wir das echte Italien“, bilanzierte Nationaltrainer Luciano Spalletti in den Katakomben des römischen Olympiastadions am Freitag. Immerhin war der Angstgegner bezwungen, der im März 2022 Italien noch den Weg zur WM verstellte und gegen den es im Hinspiel der EM-Qualifikation nur ein mageres 1:1 gab. Das 5:2 zeigte auch: Italien kann Tore schießen, sogar ohne echten Mittelstürmer. Vor allem Rechtsaußen Federico Chiesa setzte sich mit zwei Treffern und tollen Dribblings und Finten an der Außenbahn in Szene. „Er ist derzeit unser Mann der Extraklasse, unser Jannik Sinner“, meinte Spalletti mit Verweis auf den Tennisprofi, der mit seinem Einzug ins ATP-Finale das gesamte Land begeistert.
Italiens Abwehr fehlt die alte Klasse
Zum „echten Italien“ beim 5:2 gegen Nordmazedonien gehörten aber auch erschreckende defensive Aussetzer. „Bei dem Niveau, dass wir derzeit haben, kann ein kleines bisschen Nachlassen in der Konzentration, ein nicht mit 100 Prozent geführter Zweikampf schon dazu führen, dass wir das teuer bezahlen“, gab Spalletti zu. Selbst der 66. der Weltrangliste kam zu zwei Treffern, was für einige Minuten zu eisiger Stille im Stadion führte. Die Angst vor dem Versagen hatte alle erfasst, von den elf auf dem Rasen über den verdrossen in seiner Coaching Zone hin und her tigernden Spalletti bis hin zu den 56.000 auf den Rängen.
Italien berappelte sich, legte zwei Treffer nach. Spalletti feierte dann besonders diese Nehmerqualitäten. An der miserablen Abwehrbilanz ändert das aber nichts. Die Null hinten stand in den letzten zwölf Monaten nur bei zwei Spielen gegen Malta. Und das im Lager der einstigen Defensivspezialisten Europas! Die Fehleranfälligkeit seiner Abwehr will Spalletti durch hohes Pressing, gute Organisation und flüssige Kombination kompensieren. „Technische Klasse und viel Energie in den Zweikämpfen“ gab er als Parole aus.
Barella, Raspadori und Chiesa überzeugen bei Italien
Außenstürmer Chiesa verkörpert das bisher am besten. „Er schafft mit seiner Technik und mit seiner Physis die freien Räume, die für uns so wichtig sind“, lobte Spalletti seinen „Sinner“. Der extrem bewegliche und mannschaftsdienliche „falsche Neuner“ Giacomo Raspadori – mit Torerfolg gegen Nordmazedonien – überzeugt ebenfalls mit Technik und Kampfkraft wie auch Mittelfeldmotor Nicolò Barella.
Über die Dauer von 90 Minuten kann aber niemand von ihnen dieses Niveau abrufen, nicht einmal gegen Nordmazedonien. Das sorgt für allgemeine Skepsis. Und so mehren sich selbst angesichts der momentan erbaulichen Ausgangslage gegen die Ukraine – ein Remis reicht zum Weiterkommen – wieder die mahnenden Stimmen. „Sagt niemals den Spielern, dass ein Remis reicht, denn wenn sie auf Remis spielen, verlieren sie regelmäßig“, unkte Ex-Nationaltrainer und Offensivfußball-Guru Arrigo Sacchi. Die Zeiten, dass die Italiener mit minimalstem Einsatz auf ein Ergebnis hin spielen konnte, sind endgültig vorbei. Die aktuelle Squadra Azzurra muss einen Maximalaufwand für minimale Ergebnisse wie eine EM-Qualifikation betreiben. Immerhin sieht das phasenweise schon recht attraktiv aus.