Frankfurt. Der Europameister von 1996 war bis Ende September türkischer Nationaltrainer. Hier spricht er über den kommenden DFB-Gegner.
Stefan Kuntz sitzt gerade zu Hause in Neunkirchen, als ihn diese Redaktion auf dem Handy erreicht. Der Europameister von 1996 hätte an diesem Freitag eigentlich gerne in Berlin auf der Pressekonferenz gesessen, um über das Spiel der Türkei in Deutschland am Samstag (20.45 Uhr/RTL) im Olympiastadion zu sprechen. Doch vor wenigen Wochen wurde Kuntz als Nationaltrainer der Türkei entlassen. Stattdessen wird er sich das Spiel auf dem heimischen Sofa anschauen. Ein Besuch in Berlin kam für den 60-Jährigen nicht infrage.
Herr Kuntz, nur acht Wochen nach Ihrer Freistellung spielt die Türkei in Berlin gegen Deutschland. Wird es Ihnen wehtun, das Spiel zu verfolgen?
Es sind auf jeden Fall noch Emotionen da. Der Traum, bei der EM in Deutschland mit der türkischen Nationalmannschaft an der Seitenlinie zu stehen, ist ausgeträumt. Das wäre definitiv etwas ganz Besonderes gewesen.
Kuntz war von seiner Entlassung in der Türkei nicht überrascht
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Waren Sie überrascht über die Freistellung?
Nein, das kam gar nicht überraschend. Nachdem der Vorstand, der mich verpflichtet hat, aufgehört hat, war klar, dass die neue Führung ihre eigenen Leute mitbringt. Das merkt man dann auch, wenn sie nicht hinter dir steht. Allerdings waren unsere Ergebnisse noch sehr gut. Da hätte eine Entlassung komisch ausgesehen.
Wie wurde Ihnen das Aus dann erklärt?
Es wurde mir persönlich mitgeteilt, aber eine Begründung war nicht wirklich vorhanden. Es bringt jetzt aber auch nichts mehr, zu lamentieren. Man muss die Entscheidung akzeptieren.
Möglicherweise sind Sie etwas zu spät entlassen worden. Hansi Flick wurde nur wenige Tage vor Ihnen freigestellt. Sie waren als Nachfolger im Gespräch.
Das kann ich nicht bestätigen, da es keinen Kontakt und keine Gespräche gab.
Hansi Flick ist über ein 1:4 gegen Japan gestolpert, Sie drei Tage später nach einem 2:4. Das ist schon kurios, oder?
So sehe ich es nicht. Wir sind nicht über Japan gestolpert, sondern über die genannten Umstände. Das Ergebnis war nicht der Grund. Dabei bleibe ich.
Mit Hansi Flick hatten Sie das Spiel am Samstagabend selbst vereinbart, stimmt‘s?
Ja, das war meine Idee. Hansi und ich hatten telefoniert. Die Rückmeldung war positiv. Wir wollten gegen starke Gegner testen. In Deutschland gegen Deutschland zu spielen, hatte mit der EM einen besonderen Hintergrund. Wir wollten mehrere Tage vorher in Berlin verbringen und uns mit den Fans zusammen einstimmen. Die Türken sind sehr emotionale und treue Zuschauer. Ich fand die Idee extrem cool.
Kuntz ist genervt von politischen Debatten im Fußball
Politisch wäre es angesichts der vielen Pro-Palästina-Proteste in Berlin und der Haltung der Türkei zu Israel aktuell nicht einfach gewesen für Sie, die richtigen Worte zu finden.
Das stimmt. Ich bin aber der Meinung, dass ein Fußballtrainer ein Fußballtrainer sein sollte. Man darf seine politische Meinung haben. Aber wir sollten nicht die Protagonisten sein, die irgendwelche Reden schwingen. Wir machen es uns in Deutschland teilweise schwer, weil wir meinen, immer irgendwelche Statements abgeben zu müssen. Das ist in der Türkei anders.
Wie haben Sie es dort erlebt?
Total neutral. Ich bin nicht ein Mal angesprochen worden, um mich politisch zu äußern.
Gab es mal ein Treffen mit Präsident Recep Tayyip Erdogan?
Es gab mal eine gemeinsame Veranstaltung, aber keinen persönlichen Kontakt.
Dann reden wir über Fußball. Trauen Sie der Türkei eine gute EM zu?
Wir haben einen sehr guten Jahrgang und waren auf einem guten Weg, neue Strukturen aufzubauen. Ich war überzeugt, dass wir uns qualifizieren werden und eine bessere EM spielen als die letzte (Vorrunden-Aus mit null Punkten, d. Red.).
Sie sind ein echter EM-Experte, wurden als Spieler 1996 in England Europameister und als Trainer zweimal mit der deutschen U-21-Nationalelf, 2017 und 2021. Welcher dieser Titel hat für Sie den größeren Stellenwert?
Für meine Reputation als Spieler war der EM-Titel 1996 mit dem Tor gegen England im Halbfinale etwas Besonderes. Ich bin zwar mit Kaiserslautern Deutscher Meister und Pokalsieger geworden, konnte auf der internationalen Bühne aber nicht so oft agieren. Emotional waren die beiden Titel als Trainer für mich wertvoller, weil du nicht nur einen Pool von 35 Spielern begleitest, sondern auch für einen großen Staff verantwortlich bist. Mit jedem einzelnen erlebst du eine kleine Geschichte. Das ist etwas besonders Schönes.
Bei Ihrem EM-Sieg 1996 gab es mit Ihnen, Jürgen Klinsmann, Oliver Bierhoff und Fredi Bobic gleich vier Mittelstürmer im Kader. Aktuell heißen die Stürmer Niclas Füllkrug und Marvin Ducksch, die vor zwei Jahren noch in der Zweiten Liga gespielt haben. Warum hat Deutschland kaum noch Neuner?
Weil die individuelle Ausbildung über Jahre nicht mehr im Vordergrund stand. Ich war mit Antonio Di Salvo verantwortlich dafür, ein Stürmerprogramm zu entwickeln. Da hat man gesehen, dass den Jungs das positionsspezifische Training fehlt. Das ist auf der Strecke geblieben zwischen all den schwimmenden Neunern, hängenden Zehnern oder bekloppten Elfern (lacht). Wir haben es verpasst, die Spezialisten individuell auszubilden. Wir müssen die Spezialisten wieder in ihren Stärken trainieren. Die Reform im deutschen Nachwuchsfußball ist ja nicht umsonst auferlegt worden.
Sie ist aber auch nicht unumstritten.
Die Probleme wurden früh erkannt, aber die Lösungen sind zu spät umgesetzt worden. Das sind jetzt erstmal kleine Schritte zum Ziel. Es geht darum, die Kinder auf dem Weg nicht zu verlieren. Da sind vor allem die Vereine gefragt. Wir haben 57 Nachwuchsleistungszentren. Da wurde über Jahre versäumt, die Jungs individuell in ihren Positionen besser zu machen.
Kuntz kritisiert Ausbildung der Stürmer in Deutschland
Sie meinen insbesondere die Mittelstürmer?
Miroslav Klose war der letzte große Neuner in Deutschland. Füllkrug ist jetzt 30 Jahre alt, Ducksch 29. Unsere besten Stürmer kommen über die Flügel mit Leroy Sané und Serge Gnabry. Mit Jamal Musiala und Florian Wirtz haben wir wunderbare Fußballer im Zentrum. Ganz vorne fehlt uns noch etwas.
Gnabry und Wirtz sind unter Ihnen Europameister geworden. Wer hat das Potenzial, bei der EM 2024 einer der Stars zu werden?
Sané spielt seine beste Saison in Deutschland und kann mit seinen Fähigkeiten einer der ganz besonderen Spieler werden. Ich bin aber auch kein Freund von diesen Fragen. Mir ist lieber, dass wir als Mannschaft Weltklasse sind. So wie Argentinien bei der WM. Oder auch Marokko oder Kroatien. Das ist viel wichtiger. Ich habe meinen Jungs immer gesagt, sie müssen so spielen, dass der Zuschauer zu Hause nicht aufs Klo gehen kann und vor lauter Spannung vergisst, sein zweites Bier zu holen. Ich wünsche mir diese Identifikation, dass die Menschen wieder hupend durch die Innenstadt fahren. Der Funke muss überspringen.
Ist Julian Nagelsmann dafür der richtige Bundestrainer?
Das wird sich bei der EM zeigen. Es wissen doch alle, was gefragt ist. Ich denke, dass Julian das auch umsetzen kann.
Wie geht es mit Ihnen weiter? Ihr Name wurde zuletzt auch gehandelt für das Amt des Frauen-Bundestrainers.
Da kann ich mich nur wiederholen. Wenn es keinen Kontakt gibt, gibt es keinen Kontakt.
Könnten Sie sich dieses Amt denn überhaupt vorstellen?
Es ergibt keinen Sinn, sich dazu zu äußern, weil das Thema nicht auf dem Tisch ist.
Kuntz will am liebsten Nationaltrainer bleiben
Sie waren Vereinstrainer, Sportdirektor, Klubchef, Nationalcoach. Wie stellen Sie sich Ihren nächsten Job vor?
Ich habe nach meiner aktiven Karriere angefangen mit einem Fernstudium in Management, habe für ein niedriges Gehalt als Sportchef gearbeitet, war plötzlich Vorstandsvorsitzender in Kaiserslautern. Dann hatte Hansi Flick die Idee, dass ich Nachfolger von Horst Hrubesch bei der U21 werde. Und irgendwann spürte ich den Wunsch, eine A-Nationalmannschaft zu trainieren. Ich habe in meinem Leben immer nach Herausforderungen gesucht, in denen ich mich menschlich und beruflich weiterentwickeln konnte.
Das klingt so, als ob Sie nicht wieder in einem Verein arbeiten werden.
Eine Nationalmannschaft zu trainieren, passt zu mir. Ich würde aber nicht ausschließen, noch einmal etwas Verrücktes zu machen.