Zermatt/Cervinia. Im alpinen Ski-Weltcup feiert eine Abfahrt der Superlative ihre Premiere. Die Kritik daran sollte eher einem anderen Fakt gelten.
Der alpine Ski-Winter hat noch gar nicht richtig begonnen, da wartet der Weltcupzirkus an diesem Wochenende mit einem Ereignis voller Superlative auf. Aber auch die Diskussionen um diese Premiere haben eine rekordverdächtige Intensität erreicht, ehe der erste Abfahrer im Ziel ist.
„Gran Becca“ ist das Stichwort. An diesem Sonnabend um 11.30 Uhr wird das erste grenzübergreifende Weltcup-Skirennen gestartet. Der Start liegt auf der wahrlich atemberaubenden Rekordhöhe von knapp 3800 Metern oberhalb von Zermatt im Schweizer Kanton Wallis. Das Ziel ist auf immer noch mehr als 2800 Metern im italienischen Skigebiet von Cervinia.
Sportplatz: Neue Weltcuppiste sorgt für Aufsehen und Kritik
Die Weltstars der Abfahrtsszene wie Marco Odermatt, Aleksander Aamodt Kilde und Vincent Kriechmayr werden vor der Kulisse des wie von Puderzucker bestäubten Matterhorns die rund 3,7 Kilometer lange Piste herunterrasen, gleiten und springen. Allein der erste, rund 70 Meter lange Sprung, hat schon bei den Trainingsläufen Aufsehen bei Betrachtern und Kritik bei den Fahrern hervorgerufen.
Die Bilder des Rennens werden spektakulär sein. Das ist für manch einen vielleicht die Hauptsache – hierzulande live zu sehen im TV-Programm des Bayrischen Rundfunks und im Stream der ARD-Sportschau. Damit sich der Aufwand auch lohnt, gibt es am Sonntag zur gleichen Zeit direkt die zweite Auflage des Rennens auf der „Gran Becca“. Dieser Name wird im regionalen Dialekt der frankoprovenzialischen Sprache benutzt und heißt „Großer Gipfel“, womit nichts anderes als das Matterhorn gemeint ist.
Klimawandel könnte Ski-Klassiker wie Kitzbühel gefährden
Der Gedanke, alpine Skirennen in einer Höhe auszutragen, auf der im November auf jeden Fall Schnee liegt und nicht künstlich mit Mengen an Wasser und Strom erzeugt werden muss, um ein weißes Band in eine grün-braune Berglandschaft zu legen, ist sicherlich nicht abwegig. Zum Vergleich: Das Ziel beim immer noch berühmtesten Abfahrtsklassiker, dem Hahnenkammrennen auf der Streif in Kitzbühel, liegt gerade einmal auf 806 Metern über dem Meeresspiegel. Wenn die gängigen Prognosen eintreten, ist dies in einigen Jahren selbst Ende Januar keine schneesichere Höhe mehr. Gleiches gilt für Garmisch-Partenkirchen (770 Meter).
Zu kritisieren im Zusammenhang mit der Premiere in Zermatt und Cervinia ist vor allem, dass die Rennen kein anderes Event im Weltcup ersetzen. Nach 82 Wettbewerben im vergangenen Winter sind jetzt 89 terminiert worden. Die Fahrerinnen und Fahrer müssen immer noch ein bisschen mehr von ihrer faszinierenden und oft waghalsigen Kunst liefern. Regeneration ist längst Nebensache. Wie viele andere Sportorganisationen, allen voran die Fifa, muss sich deshalb auch der Ski-Weltverband Fis den Vorwurf des Gigantismus gefallen lassen.
Weltcupzirkus tourt zweimal in die USA
Ganz besonders kritikwürdig ist dabei, dass der Weltcupzirkus der Männer nicht nur Ende November, sondern auch noch einmal Ende Februar für ganze vier Rennen in die USA tourt. Diese zweimalige interkontinentale Verlegung des gesamten Trosses und Equipments innerhalb eines Winters ist völlig unnötig und gibt jenen zusätzliche Argumente an die Hand, die ohnehin Skifahren und speziell Profirennen für abschaffungswürdig halten.
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Wie die sicher ungewöhnlichste Ski-Premiere der vergangenen Jahrzehnte zu bewerten ist, muss das Wochenende zeigen: Als hochalpiner Blödsinn oder als begeisterndes Ereignis mit Klassiker-Potenzial. Die sportliche Fairness gebietet es, einem neuen, mit großem Aufwand, aber auch viel Herzblut aus der Taufe gehobenen Ereignis, eine Chance gegeben wird.
Auch die schnellsten Skifahrerinnen starten auf der „Gran Becca“
Immerhin hat die Fis einen für ihre Verhältnisse progressiven Entschluss gefasst: Eine Woche nach den Männern dürfen auch die schnellsten Skifahrerinnen der Welt die „Gran Becca“ herunterrasen. Während eine derartige Gleichberechtigung bei den Abfahrtsklassikern in Kitzbühel, Wengen und Gröden seit jeher tabu ist, wird sie nun ausgerechnet im ultrakonservativen Wallis praktiziert. Gemeinsame Rennen von Männern und Frauen, wie sie einmal US-Star Lindsey Vonn gefordert hatte, wären eine ganz andere Premiere gewesen, aber bleiben vorerst Utopie – eigentlich schade.