Essen. Im Marathon wurden zuletzt viele neue Rekorde aufgestellt. Auch der Weltrekord von Kelvin Kiptum gehört dazu. Wie das gelungen ist.

Seit Sonntag hat Kelvin Kiptum für viele Fotos mit anderen Läufern posiert. Läufern, die wie er den Chicago-Marathon absolviert haben. Sie waren die gleiche Strecke gelaufen, doch der Kenianer war in einer völlig anderen Dimension unterwegs. Zwei Wochen nachdem die Äthiopierin Tigist Assefa (26) in Berlin den Weltrekord der Frauen um rund zwei Minuten auf 2:11:53 Stunden runtergeschraubt hatte, verbesserte der 23-Jährige mit einer Siegerzeit von 2:00:35 Stunden den Weltrekord seines Landsmanns und Szene-Stars Eliud Kipchoge (38) um 34 Sekunden. Die magische Zwei-Stunden-Marke ist hauchzart entfernt. Nach seiner Rückkehr nach Nairobi am Mittwoch sagte er zwar: „Ich habe nicht vor, unter zwei Stunden zu laufen, sondern nur meinen eigenen Rekord zu verbessern“, doch viel verbessern muss er nun einmal nicht, um jenes Ziel zu erreichen, für das er vor einigen Jahren wohl noch für verrückt erklärt worden wäre.

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„Für mich ist dieser Weltrekord unfassbar“, sagt Tono Kirschbaum (68). Der langjährige Wattenscheider Trainer betreut noch heute den deutschen Rekordhalter Amanal Petros und hat in seiner Karriere viel gesehen. Doch das, was aktuell passiert, das mache ihn sprachlos. „Es ist ein Quantensprung, den ich bis vor ein paar Jahren nicht für möglich gehalten habe. Als ich angefangen habe als Trainer zu arbeiten, stand der Weltrekord bei zwei Stunden und sieben Minuten – eine solche Perspektive war nicht absehbar.“ Dass es nicht mehr allzu lange dauern wird, bis eine eins vorne steht, davon ist sein ehemaliger Athlet Jan Fitschen überzeugt. „In zehn Jahren werden wir über die Zwei-Stunden-Marke wohl nur noch schmunzeln, sie ist bald fällig.“

Kenias Dopingproblem

Doch längst bleibt bei Fabelzeiten immer eine gewisse Skepsis. „Ich weiß, was für Umfänge diese Athletinnen und Athleten trainieren und was machbar geworden ist“, sagt Kirschbaum. „Aber natürlich bleibt bei solchen Leistungen auch immer ein Fragezeichen. Gerade Kenia hat eine erhebliche Dopingproblematik.“ In den vergangenen fünf Jahren wurden 67 kenianischen Leichtathleten wegen Dopings gesperrt. „Ich bin mir sicher, dass es auch saubere außergewöhnliche Leistungen gibt“, sagt Kirschbaum. „Aber blauäugig bin ich auch nicht.“

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Vom Himmel gefallen sind beide Weltrekorde wahrlich nicht. Jan Fitschen, 2006 Europameister über die 10.000 Meter, nennt gleich mehrere Gründe: Zum einen würden gerade in Kenia und Äthiopien viele junge Athleten auf „den klassischen Weg“, erst erfolgreich auf der Stadionbahn zu sein und dann irgendwann auf die Langstrecken der Straßenrennen zu wechseln, verzichten und sich sofort auf den Marathon spezialisieren. „Die Athleten und die Manager wissen, dass mit Straßenrennen mehr Geld zu verdienen ist – und das ist für viele immer noch mit das Wichtigste.“ So kämen konzentriertere Trainingsgruppen zusammen. Neben weiterentwickelten Trainings- und Regenerationsmethoden nennt Fitschen außerdem zwei entscheidende Punkte: Ernährung und Material.

Nahrungsergänzungsmittel steigern Leistungen

So gibt es spezielle Nahrungsergänzungsmittel wie etwa ein Hydrogel, das auf Kohlenhydraten basiert, die „unter hoher Belastung viel, viel verträglicher sind“. Fitschen: „Dass der berühmte Mann mit dem Hammer einen im Wettkampf nicht erwischt, lässt sich über gezielte Ernährungsstrategien vermeiden. Sie helfen aber auch, dass man sich von harten Trainingseinheiten schneller erholt und früher den nächsten Reiz setzen kann, ohne, dass die Regeneration zu kurz kommt.“ So sei es auch möglich, das Kiptum in den vergangenen zehn Monaten drei Marathon-Wettkämpfe absolvieren konnte, die alle auf Weltklasseniveau waren. Fitschen: „Früher hat man gesagt, man macht einen im Frühjahr, einen im Herbst – und einer davon war meist auch nicht ideal.“ Die Grenzen haben sich verschoben.

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Und dann, natürlich, die Schuhe. Zwischen den großen Marken ist längst ein Wettrüsten um das beste Modell entstanden. Carbon und dicke Sohlen mit speziellen Dämpfungsmaterial sind der Schlüssel zum Superschuh. Nach ihrem Berlin-Sieg hielt Tigist Assefa ihren Weltrekord-Treter stolz in die Kameras. Tono Kirschbaum sagt, die Athleten bekämen den Hype natürlich mit, „doch eine Verunsicherung spüre ich nicht“. Er glaube auch nicht, dass die Materialschlacht den Sport kaputtmache: „Es gehört ein stückweit dazu. Schon Günter Netzer hatte einst extra angefertigte Puma-Schuhe getragen.“

Neue Schuhe nichts für Freizeitläufer

Wie sich so ein Schuh anfühlt, weiß Jan Fitschen. Er trägt Carbonschuhe für Wettkämpfe oder schnelle Einheiten. „Wenn man normal geht, eiert man etwas“, erzählt er, „aber beginnt man zu laufen ist es ein geniales Gefühl.“ Wie eine „ganz, ganz minimale Sprungfeder“. „Die Ermüdung wird durch den Carbonschuh verzögert“, sagt Kirschbaum. „Der Läufer spürt bei jedem Schritt einen kleinen Zug nach vorne. Aber die Schuhe sind längst nicht für jeden was.“ Weil er sehr starr und an den Stil der Profis angepasst, ist er für ungeübte Freizeitsportler weniger geeignet. Aber: weil inzwischen fast alle Marken einen solchen Schuh bereitstellen, kommt es auch wieder auf den Athleten selbst an.

Als solcher will Fitschen in rund zweieinhalb Wochen beim Marathon in New York überzeugen.