Sydney. England besitzt bei der WM titelreife Zutaten, von denen vieles inzwischen an das Selbstverständnis der USA erinnert.
Offenbar konnte „Sweet Caroline“ nicht warten. Sekundengenau nach Schlusspfiff hatte die Stadionregie im riesigen Australia Stadium von Sydney nach dem umkämpften WM-Viertelfinale zwischen England und Kolumbien (2:1) bereits den Klassiker von Neil Diamond parat. Der Ohrwurm animierte zwar prompt eine kleine britische Kolonie in der Kurve zum Mitmachen, doch auf dem Platz sahen die Protagonisten für Veitstänze keine Veranlassung. Der Auftrag der Lionesses ist umfassender. Selbst das stimmungsvolle Halbfinale gegen Australien (Mittwoch, 12 Uhr deutscher Zeit/ARD) an selber Stelle wäre nur Zwischenstation.
Die Nationaltrainerin Sarina Wiegman trachtet nach der Trophäe, wo doch ohnehin eine Nation gekrönt wird, die noch nie Weltmeister bei den Frauen war. Deshalb hat die Niederländerin das Team England zu einer Ergebnismaschine geformt, die auf alles eine Antwort ausspuckt. „Diese WM ist sehr herausfordernd. Es gibt keine einfachen Spiele mehr“, erklärte die 53-Jährige ihre pragmatische Herangehensweise. Dann hob sie die Hand, um das inzwischen athletisch, taktisch und technisch gestiegene Niveau zu illustrieren. Der Abnutzungskampf gegen die kratzbürstigen Südamerikanerinnen lieferte einen Beleg für ihre These.
WM 2023: England hat sich weiterentwickelt
Dass die von diesem Gegner auf dem falschen Fuß erwischten deutschen Spielerinnen diesem Anforderungsprofil nicht mehr genügen, weil sie als Vizeeuropameister körperlich und spielerisch im Gegensatz zum Europameister sich gar nicht weiterentwickelt haben, ist offenkundig. Was Martina Voss-Tecklenburg vor lauter Rücksichtnahme nach dem EM-Finale in Wembley bloß verwaltete, hat Wiegman mit viel List weiterentwickelt. „Wir haben nicht immer die beste Leistung gebracht, aber wir finden immer eine Lösung“, sagte sie.
Ihr Ensemble geht an den Anschlag, wenn es sein muss, ohne den Kopf zu verlieren. Und so werden Widerstände überwunden. Diesmal war es formidabler Heber fast vom Strafraumeck, den Leicy Santos gekonnt über die nicht ganz optimal postierte Welttorhüterin Mary Earps – deutlich leichter als in ihrer Zeit beim VfL Wolfsburg –, der den Favorit ins Hintertreffen brachte (44.). „Nach einem Rückstand kommt bei uns keine Panik auf“, erklärte Wiegmann, deren ruhige Art abfärbt. Die durch den zwischenzeitlichen Ausfall von Strategin Keira Walsh erfolgte Umstellung auf Dreierkette hat ihr Team schnell adaptiert. Und vielleicht geschehen dann Dinge, die eigentlich einer zuverlässigen Torhüterin wie Catalina Pérez selten passieren: Bei einer Klärungsaktion rutschte der zu Werder Bremen wechselnden Ballfängerin das Spielgerät wieder aus den Händen, Lauren Hemp bedankte sich entschlossen mit dem Ausgleich (45.+6).
„Lucky“, glücklich, wie Wiegman einräumte, die dafür umso begeisterter von jenem „clinical shot“ war, den Stürmerin Alessia Russo zum 2:1 (63.) ansetzte. Ein mit chirurgischer Präzision angesetzter Schuss, der unhaltbar ins Tor rauschte. Ein Wirkungstreffer, von dem sich der letzte Vertreter des amerikanischen Kontinents nicht mehr erholte. Wieder einmal waren die Stehauffrauen von der Insel also erfolgreich. Matchwinnerin Russo fasste grinsend zusammen: „We never give up!“ Sie geben nicht auf, warum denn auch?
England bei der WM: Physis, Power, Siegeswille
Die das dritte Mal hintereinander in ein WM-Halbfinale stehenden Engländerinnen zeichnet aus, was eigentlich bei solchen Turnieren immer die USA als Merkmal mitbrachten: exzellente Physis, enorm Power und einzigartigen Siegeswillen. Die britischen Prototypen heißen nach diesen Maßstäben die Defensivstützen Lucy Bronze und Millie Bright. Doch ohne fußballerische Begabung geht es auch nicht, sonst hätten ja auch die US-Girls nicht vor vier Jahren das packende WM-Halbfinale gegen England (2:1) gewonnen.
Damals in Lyon wechselte der damalige Nationalcoach Phil Neville das englische Toptalent Georgia Stanway erst in der 89. Minute ein, was vielleicht am besten den Unterschied zu heute sichtbar macht. Unter Wiegman ist die in zwischen 24 Jahre alte Mittelfeldspielerin vom FC Bayern gesetzt, die mit ihrer Spielintelligenz wusste, was zu tun ist: erst den Steilpass zum 2:1 geben, dann auch mal Befreiungsschläge einbauen. Kolumbien war der beste Prüfstein für die Leidensfähigkeit eines Titelkandidaten, zumal unter 75.784 Augenzeugen ein beträchtlicher Teil wieder die Kolumbianerinnen unterstützte. Als Wiegman verraten sollte, ob sie gegen die Matildas am meisten die Kulisse fürchte, widersprach sie energisch: „Die größte Herausforderung wird der Gegner – und wir selbst.“ Da will eine „Sweet Caroline“ erst nächsten Sonntag nach dem Finale wieder hören.