Sydney. Nadine Angerer hat als Torhüterin der Fußball-Nationalmannschaft glorreiche Zeiten erlebt. Hier spricht sie im Interview über die WM.

Nadine Angerer, 44, hat als zweifache Weltmeisterin und fünfmalige Europameisterin die erfolgreichsten Zeiten des deutschen Frauenfußballs geprägt. Vor zehn Jahren wurde die Torhüterin zur Weltfußballerin gewählt. Inzwischen arbeitet sie als Torwarttrainerin der Portland Thorns in den USA. Bei der WM in Australien und Neuseeland war sie vor Ort, um als Teil der Technischen Studiengruppe im Auftrag der Fifa insbesondere die Torwartleistungen zu analysieren.

Ihr Besuch bei der WM war für Sie ja auch eine Reise in die eigene Vergangenheit: Sie haben zwei Jahre in Brisbane gewohnt und gespielt. Hätten Sie gedacht, dass sich das Land doch so für den Fußball begeistert?

Nadine Angerer: Ich bin nicht wirklich überrascht, aber von der Stimmung begeistert. Ich habe Frankreich gegen Jamaika in Sydney gesehen, das war eine Hammerstimmung trotz eines 0:0. Oder auch die Spiele in Perth waren atmosphärisch grandios, und da hat ja nicht Australien gespielt.

Spielt da vielleicht das lässige Lebensgefühl dieses Landes hinein?

Nadine Angerer: Ja, mir hat das damals auch super gefallen, mit vielen Leuten bin ich bis heute befreundet. Die Offenheit und Freundlichkeit der Menschen sind herausragend.

Australien trifft am Samstag (9 Uhr deutscher Zeit/ZDF) auf Frankreich. Die „Matildas“ haben bei ihrem Heimturnier eine Euphoriewelle losgetreten. Fiebern Sie mit Ihrer früheren Wahlheimat mit?

Nadine Angerer: Ich kenne noch sehr viele Spielerinnen aus der Mannschaft persönlich, weil ich mit vielen noch zusammengespielt habe. Sie haben es geschafft, eine Connection mit den Fans herzustellen. Sie haben auch selbst zueinander gefunden. Und wenn ich den Trainer Tony Gustavsson höre, bekomme ich Gänsehaut. Den Druck hat er abgeschüttelt. Sie reiten jetzt wie ein australischer Surfer auf einer Riesenwelle. Ich habe etliche Spiele dort auch in Sportsbars geschaut, und es war schön zu sehen, wie die Australier voll mitfiebern, wenn die Matildas spielen.

Was hat Sie sportlich am meisten beeindruckt?

Nadine Angerer: Meine wichtigste Erkenntnis ist erstmal, dass die Torwartleistungen unfassbar gut geworden sind. Ansonsten ist das Turnier natürlich voller Überraschungen. Mich würde nicht wundern, wenn Kolumbien noch Weltmeister würde – das sage ich jetzt mit einem Augenzwinkern. Aber wer hätte gedacht, dass Südafrika, Nigeria, Marokko oder Jamaika weiterkommen – und dass Deutschland ausscheidet. Ich habe dem deutschen Team wirklich zugetraut, dass sie nach dem letzten Jahr mit der Euphorie der deutschen Fans und Medien eine ganz große Rolle bei dieser WM spielen. Denn Talent ist genug da, und ich bin weiterhin großer Fan dieser Mannschaft.

Aber was ist schiefgelaufen?

Nadine Angerer: In solch einer Gruppe darf man niemals ausscheiden. Ich habe das Spiel Kolumbien gegen Marokko live im Stadion gesehen; und mit Verlaub: Bei allem Respekt für beide Teams, und ich habe wirklich Gänsehaut bekommen, wie sich die Marokkanerinnen gefreut haben, aber es ist eigentlich unmöglich, dass unser Team in dieser Konstellation rausgeht! Aber anscheinend war es ja möglich….

Woran hat es denn gemangelt? Außer Alexandra Popp verkörpert niemand einen absoluten Siegeswillen. Spätestens nach der Niederlage gegen Kolumbien hätten doch früher Sie und andere Führungsspielerinnen mal hinter verschlossenen Türen Tacheles geredet, wie es bei der EM 2013 nach dem zweiten Gruppenspiel gegen Norwegen (0:1) passierte.

Nadine Angerer: Ich kann nicht einfach sagen, bei uns war alles besser, weil ich außer Alex Popp, Sara Däbritz oder Melli Leupolz kaum mehr eine Spielerin kenne. Aber offensichtlich ist ja was schiefgelaufen. Ich habe ein Team mit Riesenpotenzial beobachtet, das aber die Ergebnisse nicht liefern konnte. Ich dachte eigentlich, dass die Vorbereitungsspiele gegen Vietnam und Sambia in der Vorbereitung die letzten Weckrufe waren. Vielleicht liegt systematisch im deutschen Fußball etwas im Argen, das strukturell im Verband etwas nicht richtig läuft? Ich hoffe, dass eine ehrliche Analyse stattfindet. Jetzt die Sachen schönzureden, bringt keinen weiter.

Was vermuten Sie?

Nadine Angerer: Ich glaube, dass die Spielerinnen über viele Jahre in eine Schablone gepresst worden sind, dass sie Dinge nicht mehr ganz so klar ansprechen und nicht ansprechen dürfen. Annike Krahn, Saskia Bartusiak, Celia Sasic und ich beispielsweise, wir haben sowohl positive als auch unangenehme Themen direkt zur Sprache gebracht, ohne Furcht vor Konsequenzen. Trotzdem waren wir ja gute Menschen (lacht). Dieses Problem, sich bloß nicht kritisch zu äußern, ist über Jahre herangezogen worden – und das wird vielleicht gerade zum Problem.

Dazu passt, dass die Frauen-Bundesliga eine Mauer des Schweigens errichtet hat. Fast niemand möchte derzeit etwas sagen, Topvereine wie der VfL Wolfsburg erteilen bis auf Weiteres keine Auskünfte, heißt es auf Anfrage.

Nadine Angerer: Erstmal muss man das respektieren, aber was ist denn so schlimm, auch mal etwas kritisch gegenüber dem Verband zu äußern? Nicht jede Kritik ist gleich ein Skandal. oder ein Angriff. Kritik kann vielmehr zur Lösungsfindung beitragen. Charaktere wie Almuth Schult, die vieles offen hinterfragen, sind doch die ersten, die in einer Mannschaft versuchen, den Karren wieder aus dem Dreck zu ziehen.

Muss sich Bundestrainerin Martina Voss-Tecklenburg auch hinterfragen?

Nadine Angerer: Wenn man in der Vorrunde ausscheidet, müssen sich die Spielerinnen, der Verband und die Trainerin hinterfragen. Das wird Martina auch tun. Das ist auch nichts Schlimmes und ein ganz normaler Prozess.

Das andere Problemland sind diesbezüglich die USA. Was war da los?

Nadine Angerer: Genau wie in Deutschland ist eine offene Analyse fällig. Hat man zu viel rotiert? Hat die Taktik gepasst? Ich kann sagen, dass die US-Nationalspielerinnen unfassbar viel mitbringen und dieses Team ein enormes Potenzial hat. Ich weiß, wie gut eine Sophia Smith bei uns in Portland als Stürmerin ist, da kann man sich schon fragen, ob sie auf der richtigen Position gespielt hat.

Die USA haben über Jahrzehnte eine Gewinner-Mentalität entwickelt. Sind nun Schockwellen durch die Nation geschwappt?

Nadine Angerer: Es wird für den Frauenfußball in Amerika keinen großen Schaden auslösen, dafür ist die Liga und die Präsenz zu stark. Aber natürlich ist das erstmal ein Schock für die USA, weil auch hier niemand ein so frühes Ausscheiden erlebt hat. Und die Mannschaft hat international sicher ein bisschen an Respekt verloren. Die USA werden jetzt stärker und hungriger als zuvor zurückkommen.