Sydney. Englands Sarina Wiegman setzt als einzige bei der WM verbliebene Trainerin Maßstäbe -- und macht auf Probleme aufmerksam.
Als Chloe Kelly zum finalen Elfmeter anlief, kratzte sich Sarina Wiegman an der Seitenlinie an der Nase. Sekunden später reckte Englands Nationaltrainerin beide Arme in den Himmel.
Vor einem Jahr hatte sie nach dem EM-Viertelfinale gegen Spanien (2:1 nach Verlängerung) ihre Abwehrchefin Millie Bright in die Luft gehoben, nach dem Elfmeterschießen im WM-Achtelfinale nun gegen Nigeria (4:2) hing die Niederländerin bloß entkräftet am Hals ihrer Nummer sechs. „Ich bin heute um zehn Jahre gealtert“, gab die 53-Jährige zu.
Einige Erfolge als Trainerin
Wenigstens der Europameister schrieb in Brisbane nicht den Exodus der Favoriten fort. Stattdessen fügte eine Fußballlehrerin ihrer Erfolgsstory das nächste Kapitel hinzu, auch weil sie selbst für das auf der Insel verfluchte Elfmeterschießen einen Plan hatte. Als Trainerin ist sie bereits Europameisterin 2017 und Vizeweltmeisterin 2019 mit den Niederlanden sowie Europameisterin 2022 mit England geworden. Gegen Kolumbien soll am Samstag im Viertelfinale der nächste Schritt Richtung WM-Titel gemacht werden.
Social-Media-Pause verordnet
Wiegman scheint instinktiv zu wissen, was sie tun muss. Die Trainerin mit der Brille hat den Durchblick. Anders als Bundestrainerin Martina Voss-Tecklenburg (55) spürt sie, was es für diese WM braucht: ungefähr das Kontrastprogramm zu den heimgereisten Deutschen. Beim Quartier entschied sich auch Englands Fußball-Verband FA für die Central Coast.
Doch anstatt in ein Kaff wie Wyong, ging es nach Terrigal. Ein auch im Winter angenehmer Badeort mit ein bisschen Abwechslung. In der Nähe ist der Fußballverein Central Coast Mariners beheimatet, der australische Überraschungsmeister. In dessen Heimstadion gibt Wiegman beim Training ihre Anweisungen.
Kein Social Media für die Lionesses
Eine Ansage lautete, dass ihre Spielerinnen alle Social-Media-Aktivitäten einstellen. Wiegman hat bei Amtsantritt 2021 den Leistungsanspruch der Lionesses ganz nach oben geschraubt, aber sie bringt das inzwischen ohne Verbissenheit rüber. Die in Den Haag aufgewachsene, von ihrer Zeit in den USA geprägte Persönlichkeit setzt die Maßstäbe auf der Bank.
Nur: Sie ist jetzt bei dieser WM die einzige Frau. Ein Umstand, der die zweifache Mutter stört. „Ich hoffe, dass es in Zukunft mehr Trainerinnen geben wird“, sagte sie, als sich mit dem Ausscheiden der südafrikanischen Nationaltrainerin Desiree Ellis ihre Sonderrolle ankündigte. In die WM starteten 20 männliche und zwölf weibliche Coaches. „Wir hoffen, dass das Gleichgewicht in Zukunft besser wird, und wir arbeiten daran, zumindest in England“, versprach Wiegman. Bei der EM in ihrer Wahlheimat vor einem Jahr standen den zehn Männern sechs Frauen gegenüber; sie und Bundestrainerin Martina Voss-Tecklenburg duellierten sich im Finale von Wembley.
Schweden setzt auf einen Mann
Pauschale Urteile verbieten sich beim Geschlechtervergleich. Einerseits war Vlatko Andonovski (46) bei den USA ein Fehlgriff, weil er nicht jenes Händchen hat wie Vorgängerin Jill Ellis. Andererseits scheint der Schwede Tony Gustavsson (49) genau der richtige Typ, um mit einer gewissen Stringenz das Heimteam Australien auf Titelkurs zu bringen.
Wie schnell es sich auf diesem Posten drehen kann, illustriert in Pia Sundhage (63). Niemand zweifelt an den Fähigkeiten der Schwedin, doch so erfolgreich sie in den USA arbeitete, so sehr fällt ihr das Vorrundenaus mit Brasilien auf die Füße. Gerüchtehalber wird die Französin Corinne Diacre (49) als Nachfolgerin gehandelt, die es sich mit ihrer unnahbaren Art bei Les Bleues mit allen verscherzte.
Nur sechs Prozent aller qualifizierten Trainer sind Frauen
Hege Riise (54) half nicht mal die große Beliebtheit: Als Spielerin mit Norwegen noch Weltmeisterin, Europameisterin und Olympiasiegerin, konnte sie das Aus im Achtelfinale gegen Japan nicht verhindern. Andere skandinavische Länder vertrauen lieber Männern: Lars Söndergaard (64) wird als Vaterfigur der Däninnen gelobt, Peter Gehardsson (63) nach seinem Coup gegen die USA von den Schwedinnen gefeiert. Laut der Europäischen Fußball-Union sind bislang nur sechs Prozent aller qualifizierten Trainer Frauen.
Der Deutsche Fußball-Bund hat bis auf Pionier Gero Bisanz und Übergangslösung Horst Hrubesch stets auf Frauen gesetzt. Heraus kamen unter Thina Theune-Meyer (2003) und Silvia Neid (2007) zwei Weltmeistertitel. Voss-Tecklenburg hat die Mission zum dritten Stern vermasselt, aber ihre Vita als Fußballlehrerin ist beispielhaft. Der weibliche Mangel in diesem Job wirkt immer noch eklatant. Nicht so sehr im Breitenfußball, wo in einigen Landesverbänden schon zehn Prozent Frauen trainieren.
Eine Trainerin in der Bundesliga
Aber bereits bei der B-Lizenz sieht es dünn aus, sind nur drei von 100 Trainer-Absolventen Frauen. Wenn am 15. September der FC Bayern die neue Saison der Frauen-Bundesliga eröffnet, bringt der Gegner SC Freiburg mit Theresa Merk die einzige Cheftrainerin unter den zwölf Klubs mit. Der DFB will seit längerem mehr Trainerinnen fördern. Einige aktuelle Nationalspielerinnen haben den ersten Lehrgang absolviert, aber bis eine Alexandra Popp auch hier vorangeht, könnte es noch dauern.