Kasel. Julian Weber hat den Ruf des ewigen Vierten abgelegt. Bei der Deutschen Meisterschaft holt der Speerwurf-Europameister den dritten Titel in Serie

Es herrschte reges Gedrängel auf dem Foto, das Julian Weber in den Sozialen Medien verbreitete. Eine ganze Gruppe junger Leichtathletik-Fans drängte sich um den Mann im Sporttrikot und grinst in die Kamera. Gut, dass Julian Weber so lange Arme hat. Der 1,90 Meter große Speerwerfer hat eine Spannweite, die ihm in seiner Disziplin zugutekommt – und ihn zum menschlichen Kamerateleskop macht.

Selfie mit deutschem Meister: Julian Weber in Kassel.
Selfie mit deutschem Meister: Julian Weber in Kassel. © Instagram @dlv_online

Weber deklassiert die nationale Konkurrenz der Speerwerfer

Kurz zuvor war es im Auestadion in Kassel laut geworden. Julian Weber stand mit einer Siegerweite von 88,72 Metern längst als alter und neuer Deutscher Meister im Speerwerfen fest. Die nationale Konkurrenz hatte Weber desklassiert – mit mehr als elf Metern Rückstand belegte Maurice Voigt (LG Ohra Energie/77,43) Platz zwei, Platz drei ging an Casimir Matterne (Hannover 96/71,68). Doch Julian Weber hat da diese eine Grenze, die es für ihn noch zu durchbrechen gilt: Der 2022er Europameister von München will endlich die 90-Meter-Marke knacken. Also klatschten 13.000 Zuschauer den Rhythmus, in dem sich der 28 Jahre Athlet des USC Mainz in den großen Wurf schmiss – doch es sollte nicht ganz sein, 1,28 Meter fehlten zum Ziel. „Natürlich spürt man diese Energie“, sagte Weber über die Unterstützung. „Das war ein bisschen München-Feeling.“

Improvisation beim Anlauf der Speerwerfer

Gerne hätte Julian Weber die perfekte Pointe im letzten Wurf geliefert, doch die Bedingungen waren nicht perfekt für ihn. „Der Anlauf war heute ein bisschen kürzer, da musste ich improvisieren.“ Schon lange jagt er die magische Marke, doch seine 88,72 Meter bedeuteten für ihn Saisonbestleistung und den dritten Titel bei Deutschen Meisterschaften in Serie. „Ich bin mega happy“, sagte er später gelassen, geschwitzt und glücklich. „Ich wollte das Titel-Triple, das habe ich geschafft.“

Weber arbeitet sich auf Platz zwei der Liste der Weltjahresbesten vor

In der Weltjahresbestenliste überholte er zudem den indischen Olympiasieger Neeraj Chopra und steht auf Platz zwei. „Den einen vor mir schnappe ich mir auch noch“, sagte Weber und grinste. Gemeint war der Weltjahresbeste Jakub Vadlejch aus Tschechien. Es gilt als wahrscheinlich, dass diese drei bei der Weltmeisterschaft in Budapest (19. bis 27. August) den Titel unter sich ausmachen werden. Julian Weber kommt auf jeden Fall zur richtigen Zeit in Schwung.

Rio-Olympiasieger Thomas Röhler nur Vierter in Kassel

Er ist angekommen ist der Spitze der Welt. Den Ruf des ewigen Vierten – bei Olympia 2021 in Tokio und bei der WM 2022 in Eugene – hat er hinter sich gelassen, nachdem er bei der Heim-EM in München Gold gewann. Seitdem „ist es wie eine Welle – und die will ich so lange reiten, wie es geht.“ Wie schnell das Hoch vorbei sein kann, zeigt Thomas Röhler. Von 2012 bis 2016 war er Serienmeister. Doch diesmal reichte es für den Rio-Olympiasieger, dessen Bestleistung bei 93,90 Metern liegt, mit 71,44 Metern nur für den Weber so wohl bekannten vierten Platz. Ein Rollentausch, der sich da vollzogen hat.

Die Zeiten, in denen sich deutsche Speerwerfer an der Weltspitze tummelten, scheinen vorerst vorbei. Andreas Hofmann, Thomas Röhler und Johannes Vetter zollen gerade den extremen Belastungen der vergangenen Jahre Tribut. Sie haben die Grenzen des deutschen Speerwerfens verschoben – und die ihres Körpers überschritten. Hofmann (31/Mannheim) wurde 2018 Vize-Europameister, hält den Meisterschaftsrekord (89,55 Meter). Röhler (31/Jena) wurde nach seinem Olympiasieg 2016 zwei Jahre später auch noch Europameister in Berlin. Johannes Vetter (30/Offenburg) schwang sich 2017 zum Weltmeister auf, sein deutscher Rekord von 97,76 Metern katapultierte ihn auf Platz zwei der ewigen Bestenliste hinter Weltrekordhalter Jan Zelezny aus Tschechien (98,48 Meter).

Anteilnahme auf den Rängen

Doch die Aushängeschilder hängen durch. Hofmann? Saisonaus nach Kreuzbandriss. Vetter? Sagte seine Teilnahme in Kassel aus gesundheitlichen Gründen ab. Röhler? Sucht nach hartnäckigen Rückenbeschwerden seit zwei Jahren seine Form. Zu seiner besten Zeit gelangen ihm in beeindruckender Konstanz Würfe um die 90 Meter. Auf den Rängen in Kassel war die Anteilnahme beim Anblick des hadernden Röhler spürbar. Doch Julian Weber, der nun aus dem Schatten der großen Drei getreten ist, glaubt an seinen Kollegen: „Thomas macht sein Ding, er hat auch schon wieder weiter geworfen als hier. Ich denke, er ist auch einem guten Weg – und es ist einfach schön zu sehen, dass er immer noch diese Passion hat und voll dabei ist.“ Und doch wirkte es, als hätte der Körper von Thomas Röhler verlernt, einen Speer weit zu werfen, als hätte er ihm von heute auf morgen den Dienst verweigert.

Gina Lückenkemper (M) in Aktion.
Gina Lückenkemper (M) in Aktion. © Sven Hoppe/dpa

Julian Weber schiebt solche Gedanken, er könne plötzlich aufwachen und habe seine Sportart verlernt, beiseite. Nein, davon will der Sportsoldat, der kürzlich mit seiner Freundin nach Berlin gezogen ist und nun in Potsdam trainiert, nichts hören. Nach seinem EM-Titel tankte er reichlich Selbstvertrauen, im Stadion von München hatte sein Sieg für Ekstase gesorgt. In der öffentlichen Wahrnehmung stand er jedoch erneut im Schatten – diesmal in dem von Sprinterin Gina Lückenkemper und Zehnkämpfer Niklas Kaul, deren Siege noch spektakulärer, dramatischer waren. Später wurden sie zu Deutschlands Sportlerin und Sportler des Jahres gewählt, Julian Weber landete auf Platz sechs.

Doch so konnte er seinen Weg in Ruhe weitergehen. „Ich mache einfach mein Ding“, sagte er und wirkte dabei völlig entspannt, ganz bei sich. Wünsche nach Fotos und Autogrammen erfüllt er natürlich gerne – wer wäre auch besser als Selfiestick geeignet als der starke Mann mit den langen Armen.