Hamburg. Der gebürtige Wedeler kämpfte in der Vergangenheit mit mentalen Problemen. Wie er zukünftig die Gesamtwertungen angreifen will.
Lennard Kämna war noch nie ein Mensch, der mit vollmundigen Kampfansagen aufgefallen ist. Auch als sich der gebürtige Wedeler am Donnerstag pünktlich um zehn Uhr morgens am Telefon meldet, drückt seine fast schüchtern wirkende Stimme im Gespräch mit dem Abendblatt nicht gerade das Selbstbewusstsein aus, das man von einem der besten, wenn nicht zurzeit sogar dem besten deutschen Radprofi erwarten könnte.
Erst am Dienstagabend war der 26-Jährige in seine Wahlheimat Lochau, einer 6400-Einwohner-Gemeinde nahe Bregenz am Bodensee, zurückgekehrt. Nach dem vierten Platz im Gesamtklassement der einwöchigen Fernfahrt Tirreno-Adriatico am vergangenen Wochenende war Kämna gleich in Italien geblieben, um zwei Etappen des kommenden Giro d’Italia (6. bis 28. Mai) zu besichtigen.
Radprofi Kämna: "Bin auf einem neuen Level gefahren"
„Für mich war Tirreno-Adriatico ein Fingerzeig, dass es in die richtige Richtung geht, weil ich nach langer Zeit mal wieder versucht habe, bei einer mehrtägigen Fernfahrt im Gesamtklassement vorne mitzufahren“, sagt Kämna. „Mit den fünf besten Fahrern am Berg konnte ich noch nicht mithalten. Mit meiner persönlichen Leistung bin ich aber sehr zufrieden. Ich bin auf einem neuen Level gefahren.“
Einzelne Etappen hat Kämna schon bei allen Grand Tours, neben dem Giro sind das die Tour de France und die Vuelta a España, gewonnen. Doch wer bei einem der dreiwöchigen Saisonhöhepunkte um die Gesamtwertung mitfahren will, muss bei jeder einzelnen Etappe hellwach sein, darf sich keine großen Zeitrückstände an einzelnen Tagen leisten. „Es ist ein langer Entwicklungsprozess, um ein Fahrer für das Gesamtklassement zu werden. Ich stehe momentan noch am Anfang dieses Weges, Tirreno-Adriatico war der erste positive Versuch für mich“, sagt Kämna.
Kämna ist zurzeit der vielversprechendste Deutsche
Der Profi vom Team Bora-hansgrohe ist zurzeit der vielversprechendste deutsche Fahrer auf der WorldTour. Starke Beine hatte Kämna, der 2014 Juniorenweltmeister im Zeitfahren wurde, schon immer. Nur der Kopf bremste ihn zuletzt immer wieder aus. So etwa im Mai 2021, als er in ein mentales Loch fiel, die Tour de France, Olympia und die Weltmeisterschaften absagen musste.
Schon 2019 hatte ihm sein früheres Team Sunweb einmal eine Pause verordnet, der hohe Anspruch an sich selbst war zwischenzeitlich zu viel. Der ehrgeizige Kämna hatte mitunter selbst dann trainiert, wenn er eigentlich krank im Bett liegen sollte. Irgendwann ging ihm der Antrieb komplett verloren. „Wenn ich ganz trocken wäre, würde ich sagen, ich hatte keine Lust mehr. Aber ich will gar nicht mehr darüber reden“, sagte er 2022 dem „Weser-Kurier“.
Kämna will seine Belastung stückweise steigern
Zwischen den Zeilen lässt sich auch heute noch heraushören, dass ihn die zwischenzeitliche Überbelastung sensibilisiert hat. „Ich hatte schon im vergangenen Jahr das Gefühl, vorne mitfahren zu können, wusste aber auch, dass das mit sehr viel Arbeit verknüpft ist. Momentan bin ich noch etwas zurückhaltend, versuche mich Stück für Stück zum Maximum vorzuarbeiten“, sagt er.
Man kann Kämna im Telefonat manchmal dabei zuhören, wie er in langen Pausen um die richtigen Worte ringt. „Wie soll ich das jetzt ausdrücken“, murmelt er dann beispielsweise ins Handy. Der Körper eines Hochleistungssportler ist ein fragiles Gebilde, auch wenn er von Außen noch so unerschütterlich scheint. Für Kämna gilt das ganz besonders. Und er weiß genau, dass jede zu ambitionierte Äußerung in der Öffentlichkeit wieder Erwartungen an ihn wecken wird.
2022 wurde er deutscher Meister im Einzelzeitfahren
Nach seiner fast einjährigen Auszeit war Kämna im vergangenen Jahr eindrucksvoll auf die WorldTour zurückgekehrt, gewann trotz seiner langen Pause unter anderem eine Giro-Etappe, wurde wenig später deutscher Meister im Einzelzeitfahren.
„Ich habe im vergangenen Jahr das Gefühl gehabt, dass ich von den Leuten, die um das Gesamtklassement fahren, nicht mehr weit weg bin. Wenn ich jetzt noch weiter an mir arbeite, kann das zukünftig auch für Gesamtsiege reichen“, sagt er. „Deshalb wollen das Team und ich es in diesem Jahr einfach mal versuchen. Ich kann ohnehin nichts verlieren, sondern freue mich einfach, die Chance und das Vertrauen zu bekommen.“
Beim Giro ist Kämna nur Co-Kapitän
Die Konstellation bei der diesjährigen Italienrundfahrt schmeckt Kämna besonders, trotz der Abwesenheit des australischen Vorjahressiegers Jai Hindley, mit dem Bora-hansgrohe in diesem Jahr für die Tour de France (1. bis 23. Juli) plant, trägt er nicht die gesamte Verantwortung des deutschen Teams.
Hinter Kapitän Alexander Wlassow (26) soll Kämna als Co-Kapitän zwar seine Chance im Gesamtklassement suchen, die großen Hoffnungen ruhen aber auf seinem russischen Kollegen. „Alexander ist beim Giro die klare Nummer eins in unserem Team. Ich werde als Co-Kapitän aber eine freie Rolle und alle Chancen haben. Ich empfinde diese Rolle als sehr angenehm“, sagt Kämna.
Drei Zeitfahretappen dürften ihm liegen
Die drei geplanten Zeitfahretappen beim Giro dürften ihm liegen, auch bei den steilen Bergankünften in den Alpen hat der nur 1,81 große und 65 Kilogramm schwere Athlet gute Chancen. Um sich optimal auf die sauerstoffarme Bergluft vorzubereiten, plant Kämna in den kommenden Wochen ein Höhentrainingslager in der spanischen Sierra Nevada, im Anschluss geht es noch zur Tour of the Alps (17. bis 21. April).
Einen großen Gesamtklassementfahrer hatte der deutsche Radsport schon lange nicht mehr. Sprintspezialisten wie die mittlerweile zurückgetretenen André Greipel und Marcel Kittel sorgten zwar immer wieder mit einzelnen Etappensiegen für Aufsehen, im Kampf um Gesamtsiege fehlten aber die Topleute.
Emanuel Buchmann war die letzte deutsche Klassementhoffnung
Die Stars der Szene heißen heutzutage Tadej Pogacar (24/Slowenien), Jonas Vingegaard (26/Dänemark) und Remco Evenepoel (23/Belgien). In den vergangenen Jahren versuchte Bora-hansgrohe unter anderem mit Emanuel Buchmann (30) den Angriff auf das Gelbe Trikot der Tour de France, doch der Ravensburger konnte – unter anderem wegen Stürzen und Verletzungen – bisher nie in die absolute Weltspitze vordringen.
Mittlerweile nennen fast alle Radsportexperten den Namen Kämna, wenn es um den vielversprechendsten deutschen Fahrer geht. „Ich freue mich über jedes Kompliment, dass ich von Experten oder Kommentatoren bekomme. Mittlerweile spüre ich deshalb auch keinen besonderen Druck mehr, sondern nehme diese Erwartungshaltungen gern an. Ich versuche einfach, mir selbst zu beweisen, dass ich es kann“, sagt Kämna, der bei der Frankreichrundfahrt in diesem Jahr nicht dabei sein wird, sich stattdessen voll auf den Giro konzentrieren soll.
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Der 26-Jährige käme selbst nie auf die Idee, sich als die Nummer eins des deutschen Radsports zu bezeichnen. Stattdessen sagt er: „Wir haben in Deutschland sehr viele gute Rennfahrer. Emanuel Buchmann, Maximilian Schachmann, Marius Mayrhofer oder Phil Bauhaus sind da nur ein paar Beispiele. Ich bin nicht der einzige Deutsche, der in diesem Jahr glänzen kann.“ Die jüngsten Ergebnisse zeigen allerdings, dass Kämna keinen Grund zur Bescheidenheit hat. Ob das zukünftig zu Kampfansagen führen wird, darf bei ihm aber auch weiterhin bezweifelt werden.