Hamburg. 100 Tage vor dem Start der WM betont Gastgeber Katar, wie nachhaltig die Wüsten-WM wird. Das Abendblatt macht den Faktencheck.
Die Aussichten für diesen Sonnabend in Doha sind wenig überraschend: Sonne, blauer Himmel und 33 bis 39 Grad. Immerhin: Das Wochenende, an dem es noch genau 100 Tage bis zur Fußball-Weltmeisterschaft in Katar hin sind, bietet bei der Wettervoraussage erstmals in dieser Woche Temperaturen unter der Schmerzgrenze von 40 Grad an – was in dem Wüstenemirat Katar im Sommer zunächst mal eine gute Nachricht ist.
Offiziell gute Nachrichten im Zusammenhang mit der Sonne und Katar gab es in den vergangenen Monaten einige. Denn obwohl das Land des WM-Gastgebers als einer der heißesten Flecken auf der Erde gilt, soll die Weltmeisterschaft im Winter nicht nur „die beste aller Zeiten“ (Fifa-Chef Gianni Infantino) werden, sondern auch die „nachhaltigste WM“. Je mehr Nachfragen es zuletzt zu Menschenrechten gab, zur schwierigen Situation von Arbeitern, Frauen und LGBTQ-Personen, desto mehr nutzten die Organisatoren nahezu jede Gelegenheit in den vergangenen Monaten, um über Solarenergie zu sprechen, über Nachhaltigkeit, die Reduzierung von CO2, Klimaneutralität und ökologische Visionen. „Wir werden neue Maßstäbe setzen“, steht in einer Hochglanzpräsentation mit der Überschrift: „Nachhaltigkeit stand von Anfang an im Mittelpunkt der Fifa-Fußball-Weltmeisterschaft Katar 2022“.
Mutmaßlich grünste WM aller Zeiten in Katar?
Die mutmaßlich grünste WM aller Zeiten soll also ausgerechnet in der Wüste stattfinden. Bleibt nur die Frage: Stimmen all die gut klingenden Versprechen aus den hübschen Prospekten des Organisationskomitees denn auch? Oder mit anderen Worten: Wie grün ist die Wüste wirklich?
Mohammed Al Alwaan steht an einem heißen Tag in Doha vor seinem größten Schatz, wischt sich eine Schweißperle von der Stirn und strahlt mit der Sonne um die Wette. Der Projektmanager des 974-Stadions redet ohne Punkt und Komma. Sieben Minuten und 14 Sekunden referiert er über das „nachhaltigste Stadion“ der Welt, bevor er sich erstmals eine kurze Atempause gönnt. „Habt ihr wirklich noch Fragen?“, fragt er scherzhaft die Journalisten, die im Halbkreis um den Katarer vor dem „wohl ersten Recyclingstadion der Welt“ herumstehen und lauschen.
Das Konzept der Arena, die fast ausschließlich aus Containern aus China besteht, die man nach der WM wiederverwenden könne, sei einzigartig, sagt er. 974 Container in Anlehnung an die internationale Vorwahl Katars (+974) – genau so viele wurden bei der rekordverdächtigen Fertigstellung in nur anderthalb Jahren gebraucht. Zudem sei das Stadion rund 20 Prozent günstiger als vergleichbare Arenen. „Wir wollen keine weißen Elefanten bei dieser WM haben“, sagt Al Alwaan, als er erklärt, was mit dem „Plug and Play“-Stadion (Zusammenstecken und Loslegen) nach der WM passieren soll.
Fußball-WM in Katar: Das komplette Stadion lässt sich wieder abbauen
Es gebe eine ganze Reihe von Möglichkeiten, sagt der Mann, der im traditionellen weißen Gewand und der rot-weiß karierten Ghutra auf dem Kopf gekleidet ist. Man könne das komplette 40.000-Zuschauer-Stadion nach der WM wieder abbauen und an anderer Stelle irgendwo auf der Welt wieder aufbauen. Man könne auch zwei 20.000-Mann-Arenen oder sogar vier 10.000-Fans-Stadien daraus machen. Oder: Man lässt es zunächst einmal genau da, wo es gerade ist. Im Bezirk Ras Abu Aboud direkt am Wasser. „Der Ausblick ist doch herrlich“, sagt Al Alwaan.
Bei aller berechtigten Kritik an Katar und den Organisatoren muss man zugeben, dass das Stadion tatsächlich ein optisches Highlight ist. Ob aber auch Katars Ausblick in Sachen Nachhaltigkeit so vielversprechend ist, bleibt auch nach dem längeren Gespräch mit dem stolzen Stadionprojektmanager fraglich.
Philipp Sommer – was für ein passender Name im Zusammenhang mit der Katar-WM – von der Deutschen Umwelthilfe hat da seine Zweifel. „Ich würde zuerst die Frage stellen, ob es wirklich notwendig ist, ein Stadion nur für einen Zweck zu bauen“, sagte Sommer im Interview mit der Deutschen Welle. Es sei nicht wirklich nachhaltig, eine neue Arena nur für diese WM zu bauen, um sie nach der WM möglicherweise direkt wieder abzubauen.
In Katar weiß man: In Deutschland wird alles kritisiert
In Katar kennt man die Kritik. Und man weiß, dass in Deutschland ohnehin alles kritisiert wird, was man vor dieser WM auf die Beine stellt. „Wir unternehmen wirklich sehr große Anstrengungen. Ich bin sehr stolz auf mein Land, dass wir uns in so kurzer Zeit so schnell entwickeln“, sagt Bodour Al Meer, die auf der Tribüne des 974-Stadions Platz genommen hat. Die Frau mit dem schwarzen Gewand und dem schwarzen Hijab ist genauso begeistert über das nachhaltige Stadion, das als einzige WM-Arena auch größtenteils auf eine Klimaanlage für die normalen Zuschauer verzichtet, wie Projektmanager Al Alwaan. Und genau wie Al Alwaan ist auch die Direktorin für Nachhaltigkeit des WM-Organisationskomitees latent von all den kritischen Nachfragen genervt. „Unsere Ansichten ändern sich nicht, sie haben sich schon lange geändert“, sagt die frühere Umweltmanagerin von Katars Öl- und Gas-Wirtschaft.
Bodour Al Meer spricht im fließenden Englisch über neue Fahrradrouten durch Doha, über den Besuch von Grünen-Minister Robert Habeck („Ich kann gar nicht erwarten, dass wir eng zusammenarbeiten“), über den Ausbau von Solarenergie, wiederverwendbare Trinkflaschen für die WM-Volunteers und über die nigelnagelneue Metro quer durch Doha. „Besonders meine Kinder lieben diese Metro“, sagt Al Meer – und klingt dabei ein wenig, als wenn sie über die neueste Achterbahn auf dem Hamburger Dom spricht.
Das fahrerlose Metrosystem: fast wie in einer Achterbahn
Tatsächlich fühlt man sich fast wie in einer Achterbahn, wenn man das im Oktober 2019 in Betrieb gegangene fahrerlose Metrosystem nutzt. Der einzige Unterschied: Lange Schlangen braucht man auf den drei Linien nicht befürchten. Denn neben den drei Kindern von Bodour Al Meer und ein paar Touristen scheint sich die edle und klimatisierte Nahverkehrsbahn, die sogar eine erste Klasse aus Gold anbietet, in Doha noch nicht so richtig durchgesetzt zu haben. Zumindest die Fußballfans aus aller Welt dürften sich aber im November und Dezember darauf freuen, dass die Metro nahezu alle WM-Arenen anfährt. Ob der Personennahverkehr allerdings auch nach der Weltmeisterschaft von den Katarern benutzt wird, bleibt abzuwarten. Nachhaltigkeitsdirektorin Bodour Al Meer ist wichtig zu betonen, dass „die Metro nicht nur für die WM gebaut wurde – die WM hat unsere Pläne nur beschleunigt“.
Mit schnellen Bauvorhaben kennt man sich in Doha aus. Die Stadt wächst im Rekordtempo. Wer in den vergangenen Ferien zu Besuch war, dürfte sich in den nächsten Ferien bereits über neue Straßen, Hotels oder Shoppingzentren wundern. In Lusail, wo auch das Endspielstadion gebaut wurde, soll bald eine Skihalle mit einer 200-Meter-Piste eingeweiht werden. Und in der Villagio Shopping Mall kann man trotz Außentemperaturen jenseits der 40 Grad schon jetzt Schlittschuh laufen oder Eishockey spielen.
All diese Bauvorhaben sorgen auch dafür, dass Katars CO2-Bilanz in den vergangenen Jahren verheerend war. 2019 hatte das Emirat die schlechteste CO2-Bilanz weltweit. 2020 ist man dann einen Platz in die richtige Richtung geklettert, weil der 19.000-Einwohner-Ministaat Palau im Pazifischen Ozean eine noch gravierende CO2-Emission pro Kopf aufweist.
Will Katar mit der WM ein grünes Image bekommen?
„Ich mag darüber nicht sprechen, weil ich diese Statistiken für nicht ganz fair halte“, sagt Metro-Anhängerin Al Meer. „Aber wir versuchen, unseren Ausstoß zu reduzieren. Wir machen viel.“
Christian Behrens, ein Kollege Sommers bei der Deutschen Umwelthilfe, glaubt eher, dass Katar sehr viel macht, um lediglich ein grünes Image zu bekommen. „In Katar zielen sie sehr stark auf den Begriff der Klimaneutralität ab – und gleichzeitig wissen alle, dass dort etwas geschaffen wird, das ökologisch nicht nachhaltig ist“, sagt der Experte gegenüber der „Sportschau“. „Das hat schon den Charakter von Greenwashing.“
Es wurden eine Million Bäume gepflanzt
Von Greenwashing spricht man immer dann, wenn Firmen oder Institutionen versuchen, durch Geldspenden, PR-Maßnahmen oder Ähnliches sich als besonders umweltbewusst und umweltfreundlich darzustellen. Ein Katar-Beispiel: Weil die Organisatoren in ihren Broschüren versprachen „alle Treibhausgasemissionen der Fifa Fußballweltmeisterschaft 2022 zu messen, zu reduzieren und auszugleichen“, mussten als sogenannte CO2-Kompensation etwa eine Million neuer Bäume gepflanzt werden.
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Doch weil das Wetter in Katar nun mal so ist, wie das Wetter ist, müssen diese Bäume dummerweise auch noch künstlich bewässert werden. Dieses Wasser würde recycelt werden, sagt Bodour Al Meer. Was sie nicht sagt: Für den Recyclingprozess brauchen die Katarer zehn überdimensionale Meerwasserentsalzungsanlagen. Und diese – wie könnte es anders sein? – verbrauchen Unmengen von Energie.
Immerhin: Energie hat man in Katar mehr als genug. Sowohl bei Gas und Öl als auch im Bereich der großen Anstrengungen, um Infantinos „beste WM aller Zeiten“ zu gewährleisten. An diesem Wochenende sind eine Reihe von Aktionen geplant, um daran zu erinnern, dass es nur noch 100 Tage bis zur größten, besten, nachhaltigsten, grünsten, tollsten und superduperigsten Weltmeisterschaft aller Zeiten sind. In den drei Shoppingzentren Doha Festival City, Place Vendome und Mall of Qatar gibt es Ticketverlosungen, Gaming-Angebote und kleinere Fußballwettbewerbe.
Vor allem aber kann man in den klimatisierten Malls eines: der Hitze entfliehen.