Hamburg. Der Hamburger Bundestrainer Valentin Altenburg über die Ziele der deutschen Damen bei der am Sonntag startenden WM.
Eine härtere Vorrundengruppe hätten die deutschen Hockeydamen kaum erwischen können. Bei der am Sonnabend beginnenden Feld-WM in den Niederlanden und Spanien geht es für das Team in Amstelveen nach dem Duell mit Außenseiter Chile (Sa., 16.30 Uhr) gegen Titelverteidiger Niederlande (So., 19.30 Uhr) und Vizeweltmeister Irland (Mi., 16.30 Uhr). Der Hamburger Bundestrainer Valentin Altenburg (41) erklärt, welche Ziele er sich mit dem Team gesteckt hat und wie diese zu erreichen sind.
Hamburger Abendblatt: Herr Altenburg, wie so oft vor großen Turnieren im Damenhockey stellt sich die Frage, wie weit Deutschland von den Niederlanden entfernt ist. Und wenn das Duell dann ansteht, sehen alle: ein gutes Stück, wie seit vielen Jahren. Wie schaffen Sie es, das zu ändern?
Valentin Altenburg: Indem wir mit der Wirklichkeit arbeiten und nicht mit einem Anspruchsdenken der Vergangenheit, das bei vielen Spielerinnen einen Druck erzeugt, der eigentlich nicht mehr da sein müsste. Zur Wirklichkeit gehört, dass die deutschen Damen die letzten 15 Spiele gegen unseren Nachbarn allesamt verloren haben. Mich interessiert aber nicht, wie weit wir von irgendwelchen Gegnern weg sind, sondern wie sehr wir sie auf dem Spielfeld nerven können. Tatsache ist auch: Wir sind Weltranglistensechster, da wäre es eine Überraschung, bei der WM eine Medaille zu holen. Schon der Einzug ins Halbfinale wäre ein Gewinn. Um das oder mehr zu schaffen, gilt es eine richtig nervige Einheit zu sein.
Sie haben sich zum Ziel gesetzt, K.-o.-Spiele gewinnen zu wollen, von denen die deutschen Damen zu viele verloren haben, zuletzt 2018 bei der WM in London im Viertelfinale gegen Spanien oder 2021 bei Olympia in Tokio im Viertelfinale gegen Argentinien. Wo liegt der Schlüssel dazu?
Ich spüre, dass die Mädels eine große Sehnsucht nach Erfolg haben. Damit allein gewinnen wir aber keinen Blumentopf. Das Faszinierende am Leistungssport ist, dass es immer wieder möglich ist, Überraschungen zu schaffen. Das gelingt dann, wenn wir auf diese Gelegenheit zu überraschen auch vorbereitet sind. Deshalb will ich eine Vorfreude kreieren, die zeigt: Wenn wir K.-o.-Spiele verlieren können, dann können wir sie auch gewinnen. Ich will ein Team, das sich selbst überraschen kann und auch möchte.
Man kann sich das immer wieder einreden, aber es wirklich umzusetzen ist hart. Welchen Trick haben Sie dafür auf Lager?
Das hat mit Tricks nichts zu tun. Ich will Denkprozesse nachhaltig aufbrechen und will weg von diesen sich selbst erfüllenden Prophezeiungen wie: Die Deutschen sind erst geschlagen, wenn sie im Bus sitzen. Das Gleiche gilt für: Argentiniens oder Hollands Damen sind unschlagbar. Sind sie nicht. Ich möchte, dass wir immer wieder neu in jedes Spiel reingehen. Unser Glas ist jedes Mal wieder leer, und wir können es neu befüllen.
Was für eine Mannschaft haben Sie vorgefunden, als Sie übernahmen?
Ich habe eine Ansammlung von Spielerinnen vorgefunden, die geeint waren von einem großen Wunsch nach Verlässlichkeit, der deutlich ausgesprochen wurde. Die Bereitschaft, hart an sich zu arbeiten, war gekippt in eine Angst davor, Fehler zu machen. An dieser Fehlerkultur haben wir gearbeitet. Es gab Schubladen, in die sich das Team eingeordnet hat. An diesen Schubladen haben wir sehr stark gerüttelt. Nun sind sie wieder offen, und das werden sie bleiben. Die Bereitschaft im Team, Denkmuster und Schubladen aufzubrechen, ist groß. Das imponiert mir.
Sie sprachen die Angst vor dem Fehlermachen an. Sie selbst gelten jedoch als sehr akribischer Trainer, der sich immens hart vorbereitet. Müssen Sie im Umgang mit Fehlern Ihren Perfektionismus stark unterdrücken?
Ja, total. Geduld ist sicherlich nicht meine Stärke. Aber ich muss und werde den Mädels Zeit geben, um sich auf unsere neuen Ideen einzustellen. Der Perfektionismus, der dazu führt, dass wir nicht zufrieden sein können, wenn nicht alles optimal läuft, ist hinderlich. Ich möchte Spielerinnen, die Verantwortung übernehmen und diese auch gern tragen. Deshalb arbeite ich situativ, vorgegebene Spielzüge durchzuboxen gibt es bei mir nicht. Das Team soll befreit aufspielen, Initiative übernehmen wollen. Darin sind Fehler eingepreist, sodass es zu Wellenbewegungen in unserer Leistung kommen kann. Aber die Freude darüber, frei sein zu können, setzt viel Energie frei. Meine Akribie soll zu prinzipiellem Handeln führen, nicht zu destruktivem Perfektionismus.
Ziehen alle mit, oder gibt es Hemmungen?
Ich spüre, dass auch die vielen älteren Spielerinnen, die erst einmal schauen wollten, wie es unter dem neuen Trainer läuft, eine neue Freude am Hockey entwickelt haben. Sie haben eine hohe intrinsische Motivation, wollen sich selbst und der Mannschaft eine neue Chance geben. Da wird gerade richtig gut mitgezogen.
Sie haben 2016 in Rio Bronze mit den deutschen Herren gewonnen, waren auch mit den U-21-Teams erfolgreich, 2013 beim letzten EM-Triumph der Damen waren sie Co-Trainer von Jamilon Mülders. Was unterscheidet die Arbeit mit Damen und Herren?
Ein Unterschied ist, dass Frauen viel mehr zu senden scheinen, ohne dass unbedingt Worte den Mund verlassen. Sie haben feine Antennen, darüber übertragen sich Stimmungen stark. Wenn Einzelne für etwas brennen, können sie schnell das ganze Team entflammen. Ich war überrascht, dass in der Coaching-Ansprache wenig Unterschied herrscht. Die Mädels hinterfragen genauso viel wie die Jungs.
Warum hat Sie das überrascht?
Früher habe ich bei Damenteams Wert auf die Zwischentöne gelegt. Ich habe versucht, mir zu überlegen, wie eine Formulierung bei den verschiedenen Persönlichkeiten ankommen könnte, und wie ich etwas sagen muss, damit alle damit umgehen können. Aus meinem Team kam in den vergangenen Wochen oft der Wunsch nach ehrlicherem, offenerem Feedback. Ich werde gebeten, Dinge möglichst direkt anzusprechen. Der Vorteil ist, dass ich das Feedback auch genauso deutlich zurückbekomme. Damit hatte ich nicht gerechnet, es macht mir aber vieles leichter.
Sie wirken in Ihren Aussagen bisweilen etwas verkopft, sind ein sehr analytischer, hinterfragender Mensch, der sich auch selbst coachen lässt. Haben Sie Sorge, Ihre Spielerinnen mit Ansätzen wie dem freien Denken manchmal zu überfrachten?
Die Mädels lassen sich nicht so leicht überfrachten. Ich befürchte eher, dass meine analytische Art richtig nervig sein kann. Tatsächlich merke ich aber, dass wir uns gern zu sehr am Detail abarbeiten, dann den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr sehen und vor lauter Analysieren viel zu wenig auf unser Hockeyherz hören. Vielleicht gelingt es mir im Laufe der WM, mein Hockeyherz sprechen zu lassen. Das wäre ein gutes Timing.
Was ist Ihre Vision vom Hockey 2022?
Ich möchte, dass wir attraktiv und erfolgreich spielen. Dass wir das Publikum begeistern. Ich liebe es, wenn der Funke vom Team auf die Zuschauer überspringt, aber dieser Funke hat mit Können und Trauen zu tun. In den vergangenen Wochen gab es diese Momente, in denen die Mannschaft das großartig umgesetzt hat, immer häufiger. Das ist es, was mich antreibt.
In der Bundesliga geht der Trend gerade wieder zu destruktivem Defensivhockey, Düsseldorf ist damit zweimal in Folge Meister geworden. Können Sie mit diesem System, in dem zudem zentralisiertes Training, wie es die meisten starken Hockeynationen betreiben, nicht möglich ist, erfolgreich sein?
Ja, sehr sogar. Die Hockeyliga war in dieser Saison so ausgeglichen wie schon lange nicht mehr. Gleichzeitig würde ich mir wünschen, dass in der Liga noch attraktiveres Hockey auch erfolgreich gespielt würde. Das werden wir mit einer engeren Zusammenarbeit mit der aktuellen Generation an Ligatrainern entwickeln. Es ist große Aufbruchstimmung zu spüren, in der kommenden Saison werden weitere internationale Topstars in Deutschland spielen. Es würde mich daher nicht überraschen, wenn wir uns auf die beste Damen-Bundesliga aller Zeiten freuen könnten. In der vergangenen Saison waren wir da sicherlich noch nicht. Was das deutsche Leistungssportsystem angeht: Wir können in unserem dezentralen System sehr erfolgreich sein. Ich bin froh, dass meine Spielerinnen in vielen verschiedenen Vereinen fest verwurzelt sind und damit greifbare Vorbilder für die kommende Hockeygeneration verkörpern.
Wann werten Sie die WM als Erfolg?
Wenn wir frei aufspielen und so oft wie möglich unser Spiel durchsetzen. Ich schaue dabei weder zu sehr auf Ergebnisse noch auf unsere Gegnerinnen. Wir haben mit uns selbst genug zu tun. Wenn wir jedes Spiel gewinnen, das wir gewinnen können, dann werden wir hochzufrieden nach Hause fahren.
Sie haben in allen Ihren 15 Turnieren als verantwortlicher Bundestrainer immer eine Medaille gewonnen. Da müssen Sie doch Nummer 16 zum Ziel haben.
Der Leistungssport macht aus Träumen Ziele. Mein Ziel ist, dass meine Mannschaften schwer zu schlagen sind und attraktives Hockey spielen. Platzierungen sind dann das, was daraus folgt, nicht andersherum. Das war bei meinen anderen 15 Turnieren auch so.
Das Projekt Ihrer Amtszeit wird, wie immer im Randsport, Olympia. Welchen Stellenwert hat diese WM mit Blick auf 2024?
Wir wollen bei dieser WM damit beginnen, ein Selbstverständnis dafür zu entwickeln, dass wir jedes Spiel in unsere Hände nehmen und genau wissen, wie wir für den jeweiligen Gegner maximal unangenehm sein können. Dennoch halte ich nichts davon, aus vergangenen Turnieren irgendetwas für künftige abzuleiten. Wir sollten deshalb alles, was wir haben, in diese WM werfen, als wäre es das letzte Turnier, das wir gemeinsam spielen dürfen.
Zu hoffen ist, dass diese WM die letzte ist, die in zwei weit voneinander entfernten Gastgeberländern gespielt wird. Was halten Sie von der Vergabe?
Sportlich, logistisch und aus Klimaschutz-Gesichtspunkten spricht viel dagegen. Meine Mannschaft macht sich seit Jahren Gedanken über ihre CO2-Bilanz, sie haben ihren Klimawald pflanzen lassen, in dem auch dieses Jahr die entstehenden Flugkosten kompensiert werden. Dass manche Teams zu ihren K.-o.-Spielen zwischen Spanien und den Niederlanden hin- und herfliegen müssen, ist auch aus sportlichen Gesichtspunkten Wettbewerbsverzerrung. Ich hoffe deshalb sehr, dass diese Themen künftig deutlich stärker bedacht werden und diese Doppelausrichtung zum letzten Mal praktiziert wird.