Hamburg. Haftom Welday kam 2014 aus Äthiopien. Zehn Jahre danach will der Neu-Hamburger für Deutschland im olympischen Marathonlauf starten.

Es gibt keine Schutzmaske, die dieses Strahlen unsichtbar machen könnte. Haftom Welday hat oft gelächelt, während er seine Geschichte erzählte, man sah es an seinen Augen. Aber nun, da er das große Ziel erwähnt, das ihn antreibt, leuchtet er, innerlich und äußerlich. Und wer die Geschichte hört oder liest, die der 31-Jährige zu erzählen hat, wird nicht daran zweifeln, dass dieser Mann erst ruhen wird, wenn sein Lebenstraum – die Teilnahme an den Olympischen Sommerspielen für Deutschland im Marathon – erreicht ist.

Aber der Reihe nach. Haftom Welday wurde in Eritrea im Osten Afrikas geboren, aber wuchs in der Region Tigray im Norden des Nachbarlands Äthiopien auf. Die Eltern trennten sich bald, der Junge blieb bei der Mutter und half ihr, nachdem er die Schule beendet hatte, beim Betreiben eines Kiosks in der 50.000-Einwohner-Stadt Shire. Er besaß außerdem ein Motorrad, das er für Taxifahrten anbot, um zusätzliches Geld zu verdienen. Der Familie ging es den Umständen entsprechend gut. Haftom heiratete, das Paar bekam einen Sohn.

Marathonläufer ließ Familie zurück

Die schweren Auseinandersetzungen zwischen Eritrea und Äthiopien allerdings, die besonders in der Region Tigray immer wieder zu kriegerischen Handlungen mit vielen Toten führten, machten der jungen Familie zu schaffen. Und so entschieden Haftom und seine Frau Brtokan im Sommer 2014, dass der damals 24 Jahre alte Vater die Flucht nach Europa antreten sollte, um dort ein Leben in Frieden zu finden und der Familie ebenfalls den Weg nach Europa zu ebnen. „Es war die härteste Entscheidung meines Lebens, meine Frau und Mateus, der damals zwei war, allein zurückzulassen“, sagt er.

Die Familie Welday: Haftom mit Ehefrau Brtokan, Sohn Mateus und den Zwillingstöchtern Hana (l.) und Hyab an deren erstem Geburtstag Anfang Januar.
Die Familie Welday: Haftom mit Ehefrau Brtokan, Sohn Mateus und den Zwillingstöchtern Hana (l.) und Hyab an deren erstem Geburtstag Anfang Januar. © Alan Orpin | Alan Orpin

Die Entscheidung allerdings schien alternativlos, und so machte er sich mithilfe eines Schleppers auf den Weg, dessen Ziel, immerhin, ihm klar war: Deutschland. Dort, so hatte er von Landsleuten gehört, gebe es Arbeit und Unterstützung. Mehr wusste er nicht über den Ort, der seine neue Heimat werden sollte. Durch die Wüste ging es per offenem Pick-up-Truck, auf dessen Ladefläche knapp 40 Menschen zusammengepfercht standen. Wer sich nicht festhielt und aus dem Wagen fiel, hatte Pech gehabt. Vier Tage und Nächte dauerte die Fahrt bis in einen Hafen an der libyschen Küste.

Dort harrte Haftom Welday dreieinhalb Wochen in einer zerstörten Indus­triebrache aus, die zum Warteraum der Flüchtenden umfunktioniert worden war. Über die hygienischen Bedingungen möchte er nicht reden. „Es war Horror“, sagt er nur. In einer Juni-Nacht kam das Kommando, ein Schiff in Richtung Italien zu besteigen. „Es war ein stabiles Holzboot, nur der Motor war nicht so gut“, sagt er. Mit Hunderten anderer Menschen wurde er unter Deck gebracht, die Hitze war unerträglich. Zum Abkühlen versuchte er, ab und an einen Finger durch die Holzvertäfelung an die Luft zu schieben. 36 Stunden, teils bei heftigem Wellengang, dauerte die Überfahrt nach Sizilien.

Odyssee endete in niedersächsischer Provinz

Von dort wurden die Geflüchteten auf verschiedene Auffanglager verteilt. Haftom Welday landete zunächst in Bologna, dann in Mailand. Dort kaufte er sich von dem Notgroschen, den er im Lager erhalten hatte, eine Zugfahrkarte, um über die Schweiz nach Deutschland zu reisen. „Ohne Fahrkarte wäre ich sofort aufgefallen, und das wollte ich nicht“, sagt er. Dennoch endete seine Reise zunächst an der Schweizer Grenze. „Ich hatte keinen Pass und wurde deshalb von den Zollbeamten aus dem Zug geholt und in ein Lager nach Kreuzlingen am Bodensee gebracht“, sagt er.

Drei Monate dauerte es, bis sein Antrag auf Flüchtlingsstatus abgelehnt wurde und er nach Italien zurückgeschickt werden sollte. „Das wollte ich aber nicht, also bin ich mit einem Regionalzug über Konstanz nach Deutschland eingereist und bis Frankfurt gefahren. Von dort wurde ich nach Osnabrück weitergeschickt, wo Freunde von mir in einem Lager lebten. Dort war es aber voll, also musste ich weiter, erst nach Friedland, dann nach Pattensen.“

In der niedersächsischen Provinz, südlich von Hannover, endete die Odyssee, und dort begann die Geschichte, die der Ausgangspunkt seines neuen Lebens ist. Im Fernsehen – was Haftom Welday sehr viel schaute zu dieser Zeit, um die deutsche Sprache zu lernen – sah er bei einer Leichtathletik-Übertragung einen Mann im deutschen Nationaltrikot, der aus Äthiopien stammte: Homiyu Tesfaye, einen Mittelstreckenspezialisten, der mehrmals deutsche Meistertitel gewann. „Ich dachte mir: Wenn der es schaffen kann, für Deutschland zu starten, dann kann ich das auch!“

Wie Haftom Welday zum Marathonläufer wurde

Das Problem: Vom Klischee, dass in Ostafrika, das die besten Langstreckenspezialisten der Welt hervorgebracht hat, jeder Mann mit dem Läufergen geboren wird, war an Haftom Welday wenig hängen geblieben. Er hatte in seiner Jugend Fußball gespielt und war gern Rad gefahren. „Aber Laufen habe ich gehasst. Im Sprint waren in der Schule sogar manche Mädchen schneller als ich.“ Seine größte Stärke allerdings war schon immer die Ausdauer, und mit seinem Körperbau – 57 Kilogramm verteilen sich auf 176 Zentimeter – hat er für einen Langstreckler Idealmaße. Eines Tages, als er nach einem Ausflug den Bus verpasst hatte, lief er mit einem Freund die drei Kilometer nach Pattensen zurück. Der Freund war schnell abgehängt, Haftom Welday brauchte knapp 15 Minuten für die Strecke in normaler Straßenkleidung – und wurde daraufhin angesprochen, ob er nicht mal im TSV Pattensen zum Lauftraining vorbeikommen wolle.

An den ersten Tag im Verein erinnert er sich genau. Er wollte, um seine Fähigkeiten zu testen, das Deutsche Sportabzeichen ablegen. Auf der letzten Runde der 3000-Meter-Distanz bekam er schweres Seitenstechen, rettete aber eine 11:28 ins Ziel. „Der Mann, der die Prüfung abgenommen hat, hat mich umarmt, obwohl ich so verschwitzt war, weil er sich so mit mir über die Zeit gefreut hat. Und dann hat er mir das goldene Sportabzeichen überreicht. Ich war so stolz!“ Stolz – und derart euphorisiert, dass er entschied, im Verein zu laufen.

„Ich wollte sofort Marathon laufen, aber die Trainer sagten mir, ich müsse erst einmal locker anfangen.“ Also startete er bei kleineren Volksläufen über fünf oder zehn Kilometer in ganz Norddeutschland. Das Laufen war nun sein größtes Hobby, vor allem aber brachte der Anschluss an den Verein den Durchbruch in der Integration. „Über den Sport habe ich die Sprache gelernt und hatte eine Anbindung an Einheimische. Ich kann sagen, dass das meine Rettung war. Ich weiß nicht, wo ich ohne das Laufen heute wäre.“

Wie sich Haftom Welday verbessert

In Pattensen hatte er auf seinem Niveau schnell keine Trainingsgefährten mehr, er wechselte 2019 zu Hannover 96, aber auch dort kam er bald an Grenzen. „Ich brauchte neue Reize. Ich wusste von einigen Landsleuten, die in Hamburg trainierten, also wollte ich dort hin“, sagt er. Über die Organisatoren des Staffelrennens „Lauf zwischen den Meeren“ bekam er Kontakt zu Jens Gauger, dem Inhaber des Hamburger Laufladens an der Ohlsdorfer Straße, der auch Cheftrainer des „Hamburger Laufladen e. V.“ ist. Nach dem ersten Treffen im Oktober vergangenen Jahres war dem 56-Jährigen sofort klar, welche Chancen in dieser Begegnung lagen. „Das Potenzial, das in Haftom steckt, ist riesig“, sagt er.

Haftom Welday beim Lauftraining im Hamburger Stadtpark.
Haftom Welday beim Lauftraining im Hamburger Stadtpark. © Alan Orpin | Alan Orpin

Tatsächlich ist dieses Potenzial mittlerweile auch in Zahlen nachweisbar. Im vergangenen Jahr lief Haftom Welday in Berlin den Halbmarathon in 62:47 Minuten; 17 Sekunden langsamer als die Zeit, die der Deutsche Leichtathletik-Verband für seinen Perspektivkader fordert. Ende September kam er bei seiner Marathon-Premiere in Berlin nach 2:13:47 Stunden auf Gesamtrang 13 ins Ziel – und war damit schneller als der beste Deutsche Philipp Pflieger (2:15:01). „Und das alles fast ohne professionelles Training“, sagt Jens Gauger, „das hat uns alle nachhaltig beeindruckt.“

Seit 12. Dezember lebt die Familie in Groß Borstel

Im Dezember zog die Familie – Frau und Sohn waren 2020 nach Pattensen gekommen, am 3. Januar 2021 kamen die Zwillingsmädchen Hana und Hyab in Hildesheim zur Welt – in eine Wohnung in Groß Borstel. Haftom trainiert bei Jens Gauger und Miriam Stroetmann im Laufladen e. V., und damit seine Bemühungen, den Reiseausweis Eritreas gegen einen deutschen Pass einzutauschen, fruchten können, soll er so schnell wie möglich aus dem Hartz-IV-Bezug ausscheiden. „Wir werden ihm einen Arbeitsplatz im Laufladen bereitstellen, außerdem wird er bei uns im Verein als Gruppenleiter arbeiten. Wir alle sehen das als ein Integrationsprojekt, auf das wir große Lust haben“, sagt Jens Gauger.

Haftom Welday kann sein Glück noch immer nicht richtig begreifen. Seine Heimat hatte er in erster Linie verlassen, um der Familie ein besseres Leben zu ermöglichen. „Es war immer mein Antrieb, in Deutschland eine Arbeit zu finden, um nicht vom Staat abhängig zu sein und meine Familie selbst ernähren zu können“, sagt er. Nun sieht es so aus, als habe er nicht nur ein geregeltes Einkommen in Aussicht und die Integration in dem Land, dessen Sprache er fast perfekt spricht und dessen Kultur er adaptiert hat, geschafft. Sondern er hat auch ein Hobby gefunden, das im besten Fall sein Hauptberuf werden kann.

Das jedenfalls ist sein erklärtes Ziel, seit er 2019 in Berlin als Zuschauer beim Marathon den Weltspitzen-Langstreckler Kenenisa Bekele, ebenfalls Äthiopier, kennenlernen durfte. „Ich hatte in der Jugend keine Idole, aber Bekele ist mein Held. Seit ich laufe, schaue ich mir viele YouTube-Videos von ihm an.“ Und spätestens, seit er im vergangenen Jahr in Berlin neben Bekele im Startbereich stand, glaubt er fest daran, sich den Traum von Olympia erfüllen zu können. Am liebsten schon 2024 in Paris, mit dem Bundesadler auf der Brust.

Haftom Welday soll eingebürgert werden

Jens Gauger versucht, nicht allzu euphorisch zu werden, um die Erwartungshaltung nicht zu hoch aufzutürmen. Der deutsche Rekord von Amanal Petros (26/Wattenscheid) von 2:06:27 Stunden, aufgestellt im Dezember 2021 in Valencia, ist schon noch um einiges entfernt. Aber die 2:10 Stunden zu unterbieten, das traut er seinem neuen Schützling allemal zu. „Und das sollte auf jeden Fall reichen, um die Norm für Paris zu knacken und zu den besten drei Marathonläufern in Deutschland zu gehören“, sagt er.

Nun gelte es jedoch, einen Schritt vor dem nächsten zu tun. Die Einbürgerung wollen sie vorantreiben, der Hamburger und der Deutsche Leichtathletik-Verband sind informiert, beide unterstützen die Einbürgerungspläne. Das Training wollen sie professionalisieren, damit sich Haftom Welday in der Saison 2022 auf allen Strecken verbessern kann. Mit Christoph Kopp kümmert sich ein renommierter Manager um die Laufplanung und die Sponsorenakquise. Mit Puma ist ein Ausrüster gefunden, der den Athleten unterstützt. Die Zeiten, in denen er mit 15-Euro-Tretern vom Discounter durch die niedersächsischen Wälder rannte, sind vorbei.

Der Weg ist bereitet, Haftom Welday wird alles geben, um ihn bis zum Ende abzulaufen. Doch selbst, wenn sein olympischer Traum nicht Realität wird, darf er sich als Gewinner fühlen. Anzukommen in einem fremden Land und das Leben zu leben, das er sich gewünscht hat, ist mehr wert als jedes Gold.