Hamburg. Eurosport-Expertin Barbara Rittner über das erste Grand-Slam-Turnier des Jahres, den Fall Djokovic und die Zukunft der deutschen Damen.

Die härtesten zwei Wochen des Jahres warten von diesem Montag an auf Barbara Rittner. Die Chefbundestrainerin des Deutschen Tennis-Bundes (DTB) kommentiert aus München für Eurosport die Australian Open in Melbourne, und wegen der Zeitverschiebung von zehn Stunden wird ihr Schlafrhythmus nachhaltig gestört. „Nach den 14 Tagen bin ich immer total platt“, sagt die 48 Jahre alte Rheinländerin im Abendblatt-Gespräch, „aber ich freue mich riesig auf das Turnier.“

Frau Rittner, der Fall Novak Djokovic hat die Sportwelt zehn Tage lang in Atem gehalten. Wie bewerten Sie ihn abschließend?

Barbara Rittner: Sportlich wird Novak selbstverständlich fehlen. Unterm Strich steht für mich, dass es nur Verlierer gibt, denn man hätte das von allen Seiten aus besser handhaben können. Novak hätte sich impfen lassen sollen, wie 97 Prozent aller Tennisprofis. Auch wenn es ihm schwerfallen mag, haben wir alle eine Verantwortung für die Weltgemeinschaft. Ich finde aber auch, dass es seitens der Veranstalter und der Politik mehr Klarheit gebraucht hätte. In dem Moment, in dem man Ausnahmen zulässt, muss man mit solchen Problemen rechnen. Hätten alle Seiten klar gesagt, dass nur geimpfte Profis antreten dürfen, wäre Novak nicht angereist. Insofern waren die vergangenen zehn Tage schädlich für den Tennissport.

Umso wichtiger, dass dieser nun im Vordergrund stehen kann. Als Damentennischefin im DTB wird Ihnen sicherlich nicht ganz wohl sein bei der Aussicht, dass mit Ange­lique Kerber, Andrea Petkovic und Tatjana Maria nur drei Deutsche im Hauptfeld stehen, die alle jenseits der 30 Jahre alt sind.

Wir müssen leider realistisch sein, und dieses Abschneiden spiegelt den momentanen Leistungsstand wider. Ich hätte mir als Zeichen sehr gewünscht, dass Jule Niemeier das Qualifikationsfinale gewonnen und erstmals in ihrer Karriere ein Grand-Slam-Hauptfeld erreicht hätte. Das wäre für die junge Generation ein wichtiger Motivationsschub gewesen. Wir haben gute Spielerinnen, die nachkommen, aber es fehlt der richtige Durchbruch. Ich bin mir aber sicher, dass Jule in diesem Jahr die Top 100 knackt.

Die Misere ist schon oft beschrieben worden: Die Generation hinter der goldenen Generation um Kerber ist komplett weggebrochen, die danach folgende ist noch nicht so weit. Sie haben Ihren Vertrag jüngst bis Ende 2023 verlängert. Wie wollen Sie den Umschwung schaffen?

Ich verstehe die Ungeduld, die in den Medien und der Öffentlichkeit geäußert wird. Dennoch bleibe ich positiv gestimmt, weil ich sehe, wie die Mädels aus unseren Porsche-Talentteams arbeiten. Wenn ich unruhig wäre, hätte ich nicht verlängern dürfen. Außerdem braucht der Nachwuchs unsere Zuversicht, denn die größte Gefahr liegt darin, dass die nächste Generation das Durchhaltevermögen verliert.

So war es bei Spielerinnen wie Annika Beck oder Carina Witthöft, die dem Druck nicht standhalten wollten und andere Optionen wählten, ihr Leben zu führen. Wie verhindern Sie, dass das zur Regel wird?

Mein Job ist es, die optimalen Teams aufzustellen und ein Umfeld zu schaffen, in dem die Mädels den Glauben daran nicht verlieren, dass sie es schaffen können. Ich habe schon oft die Jüngeren kritisiert, weil sie nicht so hart arbeiten wie eine Kerber oder eine Petkovic. Aber so ist die Zeit nun einmal, es gibt für die Jugendlichen viel mehr Exit-Optionen. Wo ich früher allein mit Angie und Petko und den anderen auf Turnieren war, will heute jede ihren eigenen Coach und am besten auch einen Physiotherapeuten. Dem stellen wir uns als Verband. Wir müssen uns einfach von der Vorstellung verabschieden, dass wir 18-Jährige haben, die ihr Abitur abschließen und trotzdem schon unter den Top 50 stehen. Es ist nicht schlimm, wenn man erst mit Mitte 20 durchstartet. Meine Angst ist nur, dass die Mädels aufhören, ohne sich diese Chance zu geben. Daran müssen wir arbeiten.

In diesem Jahr wird man wohl damit leben müssen, dass keine Deutsche die zweite Woche erreicht, oder?

Selbst eine zweite Runde ohne deutsche Damen ist ein realistisches Szenario. Petko mit Barbora Krejcikova und Tatjana mit Maria Sakkari haben richtig Pech bei der Auslosung gehabt. Angie hatte Mitte Dezember Corona und hat mit Kaia Kanepi auch ein unangenehmes Erstrundenlos. Sie kann sich zwar immer in ein Turnier reinfighten, aber die zweite Woche wäre für sie wirklich eine Überraschung.

Keine Überraschung wäre, wenn Alexander Zverev nach Djokovics Aus seinen ersten Grand-Slam-Titel gewinnt. Wie sehen Sie seine Chancen?

Selbst wenn Novak dabei gewesen wäre, hätte ich darauf getippt, dass Sascha das Turnier gewinnt. Der Olympiasieg in Tokio hat bei ihm eine deutliche Veränderung bewirkt. Die Anerkennung, die er in Deutschland erhalten hat, bedeutet ihm unheimlich viel. Er macht, auch dank seines privaten Glücks, einen viel ausgeglicheneren Eindruck. Gleichzeitig wirkt er enorm fokussiert, hat sich mit dem ersten Grand-Slam-Titel und dem Sprung an die Spitze der Weltrangliste klare Ziele gesetzt, die er stringent verfolgt. Ich finde, er ist erwachsen geworden.

Wen sehen Sie als seine ärgsten Rivalen in Melbourne?

Den Russen Daniil Medwedew und den Spanier Rafael Nadal. Aus diesem Kreis wird der Sieger kommen. Der Grieche Stefanos Tsitsipas ist zwar auch zu nennen, aber er hat seit den French Open im vergangenen Jahr, als er trotz 2:0-Satzführung noch das Finale gegen Djokovic verlor, einen kleinen Knacks weg. Gespannt bin ich auf Spaniens Jungstar Carlos Alcaraz, der ist zwar erst 18, hat aber mit seinem Viertelfinaleinzug bei den US Open gezeigt, dass mit ihm zu rechnen ist. Und auch den Australier Thanasi Kokkinakis sollten wir beobachten. Der spielt zu Hause, hat gerade das Vorbereitungsturnier in Adelaide gewonnen und kann mit der Unterstützung der Fans auch weit kommen.

Bei den Damen tut man sich seit Jahren schwer, eine klare Favoritin zu nennen, weil es immer wieder Außenseiterinnen gibt, die Majortitel holen. Wen sehen Sie diesmal vorn?

Für mich ist ganz klar Ashleigh Barty die Titelfavoritin. Sie hat den Heimvorteil, wirkt topfit, ist sehr klar in ihrer Einstellung. Dahinter gibt es sehr viele Fragezeichen. Mit der Japanerin Naomi Osaka als Titelverteidigerin ist selbstverständlich zu rechnen, sie hatte sich aber in der Vorbereitung eine Bauchmuskelverletzung zugezogen, deshalb muss man abwarten, wie sie sich präsentiert. Die Rumänin Simona Halep ist in starker Form und kann immer weit kommen. Meine beiden Geheimtipps sind aber zwei Youngster aus den USA: Amanda Ani­simova hat den Tod ihres Vaters 2019 mittlerweile verkraftet und greift mit Darren Cahill als Trainer neu an. Cori Gauff ist mit 17 noch drei Jahre jünger, aber sie hat in der Vorbereitung einen stabilen Eindruck gemacht und ist so weit, einen Grand-Slam-Titel zu holen.