Hamburg. Deutsche Kunstturn-Rekordmeisterin spricht über Erlebnisse, die ihre Karriere geprägt haben, und Erwartungen im Leistungssport.
Während die Kunstturn-Weltelite sich in diesen Tagen bei der WM in Kitakyushu (Japan) misst, hat Elisabeth Seitz andere Pflichten zu erfüllen. Die deutsche Rekordmeisterin, die nach den Olympischen Spielen in Tokio auf eine weitere Japan-Reise in diesem Jahr verzichtete, muss als Sportsoldatin einen Pflichtlehrgang bei der Bundeswehr absolvieren. Zeit, um mit dem Abendblatt über den Kinderturntag zu sprechen, der bundesweit am 13./14. November geplant ist (Infos: kinderjoyofmoving.de) und zu dem in Hamburg das Hauptevent des Deutschen Turner-Bundes stattfindet, nahm sich die 27-Jährige vom MTV Stuttgart dennoch gern.
Frau Seitz, für viele Kinder wird auch in diesem Jahr der Kinderturntag die erste Berührung mit Sport sein. Warum sollte auf diese Erfahrung kein Kind verzichten?
Elisabeth Seitz: Weil nichts in der Entwicklung von Kindern so wichtig ist wie Bewegung. Kinderturnen ist die Basis für alle Sportarten. Natürlich freue ich mich als aktive Leistungsturnerin, wenn wir an diesen Kinderturntagen viele Talente finden und sich möglichst viele Kinder für das Turnen entscheiden. Aber letztlich geht es beim Kinderturnen darum, Kindern den Spaß an Bewegung zu vermitteln. Jede Sportart hat ihre Eigenheiten, aber sie alle haben gemein, dass man extrem viel fürs Leben lernt. Vor allem das Miteinander im Team, dass man allein nicht das schafft, was gemeinsam möglich ist. Ich wünsche jedem Kind, dass es diese Erfahrungen machen darf, denn es gibt keinen Grund dafür, ein Kind vom Sport fernzuhalten.
Tatsächlich registrieren Kinderärzte und Sportmedizinerinnen steigende Zahlen an übergewichtigen Kindern, deren motorische Fähigkeiten schwinden. Was löst das in Ihnen aus?
Elisabeth Seitz: In erster Linie Traurigkeit, weil ich weiß, dass es nicht die Kinder sind, die daran die Schuld tragen. Kinder haben grundsätzlich viel Spaß an Bewegung, einen regelrechten Bewegungsdrang. Wenn man sie diesen ausleben lässt, sie zu Bewegung hinführt, dann haben sie so viel Potenzial, dass wir über Entwicklungen wie diese, die Sie ansprechen, nicht reden müssten. Leider bekommen viele Kinder nicht ausreichend Gelegenheit oder Förderung. Umso wichtiger sind Aktionen wie der Kinderturntag.
Wie war es denn bei Ihnen? Erinnern Sie sich an Ihren ersten Turntag?
Elisabeth Seitz: Leider nicht aktiv, ich war noch zu jung. Ich habe mit Ballett angefangen als kleines Mädchen, wurde dann aber wegen angeborener Leistenbrüche operiert, als ich fünf Jahre alt war. Nach der Genesung, als alles verheilt war, bin ich in Mannheim direkt ans Leistungszentrum des Turnens gegangen. Erst saß ich auf dem Sofa und habe zugeschaut, weil ich etwas schüchtern war. Dann kam eine Turnerin und hat gefragt, ob ich nicht mitmachen wolle. Natürlich wollte ich! Und es hat mir sofort viel Spaß gemacht.
Wissen Sie noch, was Sie ganz besonders gepackt hat?
Elisabeth Seitz: Eigentlich genau das, was das Turnen auch heute noch so attraktiv für mich macht: dass es niemals langweilig wird! Eine Turnhalle ist wie ein großer Abenteuerspielplatz, weil man an den verschiedenen Geräten immer neue Bewegungsformen ausprobieren kann. Es gibt so viel zu erleben, und das Gefühl ist bis heute geblieben. Natürlich entdecke ich nicht mehr viel Neues, aber es gibt in jedem Training so viel Abwechslung, dass es nie langweilig ist. Aus diesem Grund mag ich den Mehrkampf auch am liebsten, auch wenn der Stufenbarren mein bestes Einzelelement ist. Mehrkampf macht dank seiner Vielseitigkeit im Wettkampf an vier oder, bei den Männern, sechs Geräten unglaublich viel Spaß. Deshalb glaube ich auch, dass Turnen die beste Basis für jeden Sport ist. Weil es Körpergefühl vermittelt und man erleben kann, was aus einem Körper alles herauszuholen ist. Das fasziniert mich bis heute.
Was man aus einem Körper herausholen kann, ist ein wichtiges Thema. Viele Eltern sorgen sich, dass Leistungssport im Allgemeinen und Turnen im Besonderen eine immens hohe Belastung darstellt, sowohl körperlich als auch seelisch. US-Superstar Simone Biles hat bei den Olympischen Spielen in Tokio mit ihrem Geständnis, dem Druck nicht gewachsen zu sein, für viel Aufsehen gesorgt. Wie ist Ihre Meinung dazu?
Elisabeth Seitz: Es war sehr mutig und wichtig von Simone, das anzusprechen, weil dadurch deutlich wurde, dass es auch die Allergrößten betrifft. Für mich stehen körperliche und seelische Gesundheit auf einer Stufe, denn nur wenn beide Ebenen im Einklang sind, kann man Sport auf höchster Ebene ausüben. Es muss allen klar sein, dass es nicht nur darum gehen darf, dass die Leistung stimmt, sondern dass auch zählen muss, dass es den Athletinnen und Athleten gut geht.
Gerade im Turnen, wo man den Körper bei Schrauben oder Überschlägen unter besonderer Kontrolle haben muss, ist das Überwinden von Ängsten ebenso wie das Auf-den-Punkt-fokussiert-Sein von höchster Bedeutung. Wie gehen Sie damit um?
Elisabeth Seitz: Indem ich schon seit Jugendzeiten offen und ehrlich kommuniziere, wenn ich mich nicht wohlfühle. Wer im Turnen nicht in jeder Sekunde hochkonzentriert ist, geht ein großes Risiko ein. Wenn ich bei einer Doppelschraube bei der ersten Drehung nicht mehr weiß, wo ich bin, ist das unglaublich gefährlich. Deshalb ist es unerlässlich, Respekt zu haben vor dem, was man tut. Angst allerdings darf nicht dabei sein, sie wäre kontraproduktiv. Wir trainieren ja jedes einzelne Element so lange und akribisch, bis wir es im Wettkampf unfallfrei ausführen können oder uns bei einem Sturz zumindest nicht verletzen.
Verletzungen sind auch ein wichtiger Punkt. Turnen ist für die Gelenke, Muskeln und Knochen kein Wellnessurlaub.
Elisabeth Seitz: Das stimmt, Leistungssport ist grundsätzlich eine Belastung für den Körper, das haben wir immer im Hinterkopf. Dennoch trainieren wir so, dass wir den Belastungen standzuhalten lernen, ohne uns zu verletzen. Niemand will seinem Körper bewusst schaden.
Wann und wie haben Sie gemerkt, dass Sie mehr wollen als nur ein bisschen zu turnen?
Elisabeth Seitz: Diesen Einstieg kann man nicht als Moment beschreiben, er war ein steter Prozess. Dadurch, dass ich nicht in einem Verein aufgewachsen bin, sondern direkt am Leistungszentrum geturnt habe, bin ich in das Metier reingewachsen. Ich wollte aus eigenem Antrieb in jeder Trainingseinheit besser werden. Meine Trainer und Eltern haben gespürt, dass ich es wollte und auch konnte. Irgendwann stand ich dann sechsmal pro Woche in der Halle. Da war klar: Es ist was Ernstes.
Sie gehören seit Ihrem elften Lebensjahr dem Bundeskader an. Haben Sie manchmal das Gefühl, Ihre Jugend verloren zu haben?
Elisabeth Seitz: Überhaupt nicht, im Gegenteil! Ich habe dank des Sports so viele Dinge erlebt, die viele andere Menschen nicht erleben können. Ich habe die Welt bereist, bin vor großem Publikum in tollen Arenen aufgetreten und konnte immer das tun, was mir am liebsten war. Klar, als ich 16, 17, 18 war, gingen alle anderen aus meiner Klasse jedes Wochenende feiern, und ich konnte nur sehr selten mitgehen. Aber ich habe das nicht als Verzicht empfunden, weil ich viel coolere Dinge erleben durfte. Ich habe mit dem Sport viel mehr gewonnen, als ich verloren habe. Und ich habe gespürt, dass ich zu 100 Prozent ins Turnen gehöre.
Was raten Sie Eltern und deren Kindern, die vor einer ähnlichen Entscheidung stehen? Wann weiß man, was das Richtige ist?
Elisabeth Seitz: Die allermeisten Eltern wollen das Beste für ihr Kind und machen intuitiv vieles richtig. Eine Leistungssportkarriere ist nur sehr bedingt planbar, sie entwickelt sich eher Schritt für Schritt. Wenn man miteinander im Gespräch bleibt und sich ehrlich und offen austauscht, wird man gemeinsam feststellen, welcher Weg passt. Das Wichtigste ist, dass es dem Kind gut geht und dass Leidenschaft und Spaß im Vordergrund stehen. Wenn es von sich aus sagt, dass es Leistungssport machen will, braucht es Unterstützung. Wenn man feststellt, dass es zu viel wird, muss man gegensteuern.
Genau das ist ein schmaler Grat. Leistungssport, so ehrlich muss man sein, ist nicht ohne harte Arbeit und manchmal auch Qual zu haben. Auf der anderen Seite wird heute sehr stark darauf geachtet, Kinder nicht zu überlasten. Wie findet man das Maß?
Elisabeth Seitz: Sie haben recht, es ist super wichtig und ebenso schwierig, diesen schmalen Grat zu treffen, denn dass zum Leistungssport auch Härte und die Fähigkeit, sich zu quälen, dazugehören, darf man nicht verschweigen. Gerade für Trainerinnen und Trainer ist das eine große Herausforderung, und ich denke, dass sie auf diesem Weg mehr gecoacht werden müssten, um individuell aus jedem Athleten das Beste herausholen zu können. Dazu gehört, dass man einen Zugang zueinander findet und gemeinsam daran arbeitet, einen Mittelweg zu wählen. Dann kann man alles erreichen.
Sie sind dafür ein gutes Beispiel, sind mit 23 Titeln deutsche Rekordmeisterin. Erinnern Sie sich an jeden einzelnen Titel, und welcher bedeutet Ihnen am meisten?
Elisabeth Seitz: Aus dem Stegreif kann ich nicht alle nennen, aber wenn ich überlege, kommen mir zu jeder Meisterschaft einzelne Aspekte in den Sinn, gewisse Übungen oder besondere Umstände. Jeder Titel hat seine eigene Geschichte. Eine Rangordnung habe ich nicht, aber zwei sind mir besonders wichtig. Der eine 2015, als ich nach meiner Fußoperation und dem Wechsel nach Stuttgart mein Comeback gegeben habe. Und der Mehrkampftitel in diesem Jahr, mit dem ich den alleinigen Rekord geschafft habe. Ich hatte nach dem schwierigen Corona-Jahr überhaupt nicht mit dem Sieg gerechnet. Der Titel hat mir gezeigt, dass es sich lohnt, alles zu geben und immer weiterzukämpfen.
2011 wurde ein Element am Stufenbarren nach Ihnen benannt, es war das erste Mal seit 26 Jahren, dass einer deutschen Turnerin diese Ehre zuteil wurde. War das Ihr größter Erfolg?
Elisabeth Seitz: Es war auf jeden Fall ein besonderer Moment, auf den ich auch zehn Jahre danach noch sehr stolz bin. Es war ein Meilenstein, weil es nicht viele gibt, nach denen ein Element benannt wird. Damals habe ich es nicht realisiert, was es bedeutet, ich wollte einfach nur etwas Besonderes ausprobieren. Heute weiß ich, wie cool das ist.
Was bedeutet es Ihnen, ein Vorbild für viele junge Menschen zu sein?
Elisabeth Seitz: Einerseits freut es mich extrem, und es ist eine große Ehre, dass es Menschen gibt, die so sein möchten wie ich. Andererseits spüre ich auch die große Verantwortung, die das erfordert. Ich möchte mich stets so verhalten, dass ich die Rolle des Vorbilds würdig bekleide. Dafür gebe ich mein Bestes.
Ihre Teamkollegin Pauline Schäfer-Betz, die an diesem Sonntag bei der WM in Japan im Finale am Schwebebalken steht, hat als Konsequenz aus dem Konflikt am Stützpunkt Chemnitz um die Führungsmethoden von Trainerin Gabriele Frehse angekündigt, ein eigenes Projekt zu starten, um menschenwürdiges Training anzubieten. Das klingt sehr nobel, impliziert andererseits aber, dass es das bislang nicht gibt. Wie stehen Sie dazu?
Elisabeth Seitz: Es ist ein extrem spannendes Themenfeld, auf dem sich sicherlich noch vieles entwickeln kann und auch wird. Grundsätzlich finde ich den Ansatz von Pauline sehr gut, möchte aber betonen, dass nicht der Eindruck entstehen darf, dass es im Turntraining grundsätzlich menschenunwürdig zugeht. Im Gegenteil, es gibt viele tolle Trainerinnen und Trainer, bei denen vieles sehr gut läuft.
Könnten Sie sich selber auch vorstellen, etwas Ähnliches anzuschieben?
Elisabeth Seitz: Ich studiere aktuell, um Sportlehrerin zu werden. Und ich möchte auch nach der aktiven Karriere unbedingt im Turnen bleiben, um meine Erfahrungen weitergeben zu können.
Was wäre das Wichtigste, das Sie jungen Menschen vermitteln möchten?
Elisabeth Seitz: Dass Leidenschaft und Spaß im Vordergrund stehen müssen. Ich wünsche jedem Kind, dass es erleben kann, wie toll Sport ist und wie gut es einem damit gehen kann. Welche Erfolge dabei herausspringen, ist vollkommen nebensächlich, es geht um die Entfaltung der eigenen Fähigkeiten. Aber noch steht für mich die aktive Karriere im Fokus.
Gibt es einen Traum, den Sie sich im Sport noch erfüllen wollen?
Elisabeth Seitz: Na ja, die Olympiamedaille steht noch aus, vielleicht kann ich das 2024 in Paris schaffen. Ansonsten kann ich sagen, dass ich jeden Tag meinen Traum lebe. Ich darf das tun, was mir am meisten Freude macht, darf an tollen Wettkämpfen teilnehmen und um die Welt reisen. Das ist es, was mich im Sport hält und was mir besonders fehlen wird, wenn ich aufgehört habe.
Aufgehört haben in der Pandemie auch knapp 800.000 Mitglieder von Sportvereinen in Deutschland. Zum Abschluss dieses Gesprächs formulieren Sie bitte zwei Sätze, um zu begründen, warum das nicht der richtige Weg ist.
Elisabeth Seitz: Sport kann uns allen, gerade nach der schweren Pandemiezeit, die gemeinsame Freude zurückbringen und uns als Gesellschaft verbinden. Deshalb vernachlässigen Sie bitte die Vereine nicht, sondern besuchen Sie Veranstaltungen und werden selbst aktiv. Danke!