Wentorf bei Hamburg. Der SC Wentorf ist der einzige Verein im Norden für Modernen Fünfkampf. Aber wie wird man eigentlich zum „perfekten Athleten“?

Hannah Freitag streckt ihren linken Arm aus und zielt mit ihrer Pistole auf eine der kleinen weißen Scheiben, die zehn Meter von ihr entfernt an einer mobilen Holzwand hängen. Die 14-Jährige kneift ihr rechtes Auge zusammen, dann drückt sie ab. Das letzte der fünf Lämpchen über der Scheibe färbt sich grün. Die Athletin schnauft, legt die rote Pistole auf den Gummibelag am Schießstand ab und sprintet los. „Super, Hannah“, ruft Trainer Christopher Sckirl ihr hinterher.

Vier- bis fünfmal in der Woche läuft, schießt, schwimmt und ficht Hannah Freitag. Sie ist Moderne Fünfkämpferin beim SC Wentorf, dem einzigen Verein im Großraum Hamburg und Schleswig-Holstein, in dem Athleten diese Sportart aktiv betreiben können. Moderner Fünfkampf gilt als Breitensport, passt aber – zumindest im Norden Deutschlands – eher in eine Nische.

Fünfkampf-Drama um Schleu schlug Wellen

Nur einmal alle vier Jahre bei den Olympischen Spielen rückt der Mehrkampf normalerweise in den Fokus – in diesem Jahr bleibt ein Brandfleck. Die Bilder von Annika Schleu (31), die weinend mit der Gerte das ihr zugeloste Pferd Saint Boy anpeitschte, gingen viral. Der Weltverband schloss Bundestrainerin Kim Raisner, die ihre Athletin noch zum Schlagen des Pferdes aufgerufen hatte, in der Folge von den Spielen aus.

Der Deutsche Olympische Sportbund (DOSB), Tierschutzorganisationen und Dressur-Olympiasiegerin Isabell Werth übten scharfe Kritik. Und das Fernsehpublikum wunderte sich noch mehr als sonst über diese sonderbare Sportart, die es in diesem Jahr schaffte, noch etwas länger sichtbar zu bleiben, bevor sie gebrandmarkt in ihrer Nische verschwand.

SC Wentorf bildet Fünfkampf-Nachwuchs aus

Wer sie sucht, findet sie aber, die Fünfkämpfer. In Wentorf bei Hamburg blüht der Sport auf. Auf dem Sportplatz am Südring trainieren an einem Dienstagabend Ende August elf Kinder und Jugendliche im Alter von neun bis 18 Jahren im neongelben Trikot ihres Vereins das Schießen und Laufen, den sogenannten Laser-Run.

„Kommando gilt. Laden. Start!“ Christopher Sckirl stoppt die Zeit. Die Sportlerinnen und Sportler laden ihre Pistolen vor jedem Schuss über einen kleinen Haken, zielen, drücken auf den Abzug, setzen die Waffe ab und laden erneut. „Klick, Klick, Klick“ – die Schüsse klingen wie künstliche Fingernägel, die auf einen Plastiktisch trommeln. 50 Sekunden bleiben ihnen, um fünfmal ins Schwarze zu treffen – dann geht die Scheibe aus.

Der „perfekte Athlet“ – noch zeitgemäß?

„Mir gefällt, dass der Sport so vielseitig ist. Man muss auf so viele verschiedene Dinge achten und man kann dann einfach mehr als andere“, erklärt Hannah Freitag zwischen ihren Schießeinlagen. Ihre rechte Hand ist einbandagiert. Die Bergedorferin hat sich im Ferienlager verletzt, Fechten und ihre Lieblingsdisziplin Schwimmen fallen für sie vorerst aus. Als Linkshänderin freut sie sich daher umso mehr, nach den Ferien an den Schießstand und auf die Tartanbahn zurückzukehren.

Hannah Freitag (M.) an der Pistole beim Laser-Run.
Hannah Freitag (M.) an der Pistole beim Laser-Run. © HA | Roland Magunia

Die Disziplinen, von denen die 14-Jährige schwärmt, vereint wenig. Mit Absicht. Der Erfinder und Neubegründer der Olympischen Spiele, Pierre de Coubertin, wollte die forderndsten Einzelsportarten miteinander kombinieren. Wer alle Disziplinen beherrscht, gilt laut DOSB als „perfekter Athlet“. Ist das noch zeitgemäß? „Perfekt ist natürlich relativ“, sagt Karsten Hofmann (50), der sowohl Trainer beim SC Wentorf als auch Vorsitzender des Landesverbandes Schleswig-Holstein ist. „Vielleicht trifft es ,kompletter Athlet‘ besser, der Sport ist eben sehr vielseitig.“

Fünfkämpfer kommen selten aus den Städten

Die Nachwuchsschmiede in Wentorf wurde 1982 gegründet. Der Moderne Fünfkampf hat sich seitdem mehrfach gewandelt. Sowohl Trainer Christopher Sckirl als auch Karsten Hofmann schossen als aktive Athleten Ende der 80er-Jahre noch mit Sportpistolen im Kleinkaliber, stiegen dann auf die Luftpistole und 2010 auf die Laserpistole um, die als sicherer und umweltfreundlicher gilt. Unverändert niedrig blieben hingegen die Mitgliederzahlen.

„Wir sind schon immer eine überschaubare Familie gewesen“, sagt Sckirl. Bei ihm trainierten über die Jahre konstant um die 25 Sportlerinnen und Sportler, die in den umliegenden Orten wie Reinbek oder Bergedorf wohnen. Selten kommen sie aus der City, sagt Sckirl. Im Schnuppertraining Mitte August konnten Hofmann, Sckirl und vier weitere ehrenamtliche Trainer einige neue Kinder für den Sport begeistern. „Wenn vier oder fünf wiederkommen, freuen wir uns“, so der 42-Jährige.

Wie ein Astronaut in der Gemeinschaftsschule

Mo N. (Name von der Redaktion geändert) gehört ebenfalls noch zu den Neuen. Der Zwölfjährige spielte eigentlich Fußball, trainierte zur selben Zeit wie die Fünfkämpfer auf dem Sportplatz, und wurde vor etwa sieben Monaten neugierig auf die Kinder mit den Pistolen, erzählt er. Am letzten Freitag im August steht er zum ersten Mal mit Degen, Jacke, Hose, Maske, Handschuh und Plastron in der Gemeinschaftsschule Wentorf. Wie ein Astronaut sieht er mit seiner schneeweißen Kleidung und seiner schwarzen Maske aus, als er zu den anderen Kindern über den blauen Hallenboden hüpft. „Armstrecken und ein Ausfall“, kündigt Hofmann die erste Übung an. Sie gleicht einem Tanz.

Der Schüler Liam Beckert feilt an seiner Kraultechnik.
Der Schüler Liam Beckert feilt an seiner Kraultechnik. © HA | Michael Rauhe

Mo tut sich noch etwas schwer mit der Beinarbeit, vergisst den einen oder anderen Schritt, unter seiner Maske staut sich die Hitze. Der 1,41 Meter große Sportler steckt an diesem Abend zwar einige Treffer ein, sein Grinsen ist am Ende der Einheit aber selbst durch die Maske gut zu erkennen. „Jetzt habe ich endlich mal erlebt, wie es sich anfühlt, richtig zu fechten“, strahlt er. Das Training ist noch nicht beendet. Im Anschluss feilen er und seine Trainingspartner an ihrer Kraultechnik im 12,5 Meter langen Schwimmbecken gleich nebenan.

14-Jährige über Pferd-Drama: „Schockierend zu sehen“

Laufen, Schießen, Fechten, Schwimmen – fehlt nur noch die fünfte, die derzeit prominenteste Disziplin: Springreiten. Auf der Webseite des Vereins sucht man vergeblich nach den Trainingszeiten. „Auf Anfrage“ steht dort. Für die Kinder und Jugendlichen beim SC Wentorf existiert die fünfte Disziplin tatsächlich nur auf dem Papier. Generell dürfen Athletinnen und Athleten erst ab 15 Jahren an „richtigen“ Fünfkämpfen inklusive Springreiten teilnehmen. Noch bis zur U19 werden zudem nationale und internationale Vierkämpfe angeboten.

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Sowohl Hannah Freitag als auch Mo N. möchten sich im Springreiten ausprobieren, sobald sie alt genug sind. „Das war zwar schon schockierend zu sehen, was passieren kann“, sagt die 14-Jährige über das Drama in Tokio. „Aber vielleicht werden die Regeln ja geändert – das wäre weniger stressig für die Pferde.“

Wentorf bietet Fünfkampf nur als Vierkampf an

Karsten Hofmann und Christopher Sckirl möchten das Thema lieber gar nicht erst anschneiden. Wenn Jugendliche reiten möchten, unterstütze sie der Verein zwar bei der Organisation der Reitstunden in Kirchwerder oder beim Hamburg-Wentorfer Reiterverein, „aber wir zwingen kein Kind zum Reiten. Wir bieten Modernen Fünfkampf nur als Vierkampf an“, so Sckirl. Noch.

Karsten Hofmann hofft, dass sie irgendwann wieder eine Gruppe von Athleten trainieren, die Spaß am Reiten haben. Dann wolle er die fünfte Disziplin offiziell ins Trainingsprogramm aufnehmen. Bis dahin sollte der Springreit-Shitstorm auch an Wentorf bei Hamburg – der Nische im Norden – vorübergezogen sein.