Hamburg. Hamburger Olympionikin triumphiert kurz vor dem Ende der Spiele über 200-Meter-Distanz. Sprinterin Lindy Ave stellt Weltrekord auf.
Goldener Kuss: Die schönste Belohnung für ihre Machtdemonstration erhielt Edina Müller noch auf dem Boot von ihrem größten Fan: Sohn Liam kletterte kurzerhand aufs Kajak und drückte seiner Mutter liebevoll einen kräftigen Siegesschmatzer auf den Mund. Den hatte sich die Hamburgerin mehr als verdient, denn ihr furioser Lauf zu Gold war einer für die Geschichtsbücher. Nach dem Triumph im Rollstuhlbasketball 2012 krönte sie auf dem Sea Forest Waterway über 200 Meter in 53,958 Sekunden vor der Ukrainerin Marina Maschula (+0,847 Sekunden) in der zweiten Sportart zur Paralympics-Siegerin.
„In dem Moment hat man nur das Gefühl, dass man alles richtig gemacht hat. Es gab in der ganzen Zeit viele Zweifler, viele Leute, die nicht an mich geglaubt haben. Da jetzt zu stehen mit der Goldmedaille, ist der Wahnsinn“, schwärmte Müller. Die Anwesenheit ihres Lebensgefährten und des zweieinhalb Jahre alten Sohns war alles andere als eine Selbstverständlichkeit. „Am wichtigsten war für mich, dass sie irgendwie hier sind. Natürlich hätte das besser laufen können.
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Aber das Wichtigste ist, dass wir hier zusammen sind und ich die Goldmedaille in der Hand habe“, sagte Müller. Dadurch falle eine „wahnsinnige Last“ ab. Um den Sohnemann mit nach Tokio nehmen zu dürfen, durchlebte Müller vor Abreise eine Bürokratie-Odyssee – selbst die erhaltene Ausnahmegenehmigung war noch längst nicht das Ende aller Probleme. Da ihr Sohn nicht im Athletendorf wohnen durfte, musste sie mit ihrer Familie ins Hotel und sehr viel pendeln.
Doch nach „einem der besten Rennen“ ihrer Karriere war all das für einen Moment vergessen. Nach Silber in Rio setzte sich Müller souverän durch. Mit ihrem Triumph knüpfte die ehemalige Rollstuhlbasketballerin an den Erfolg ihrer früheren Teamkollegin Annika Zeyen (36/Bonn) an, die sich nach dem gemeinsamen Gold in London nun mit dem Handbike zur Paralympics-Siegerin im Zeitfahren krönte. Den Feierbefehl gab ihre Teamkollegin Felicia Laberer (20/Berlin), die überraschend in der Startklasse KL3 zu Bronze paddelte. „Heute Abend wird es richtig abgehen“, verkündete sie.
Goldene Überraschung: Sprinterin Lindy Ave (23/Greifswald) hat überraschend über 400 Meter in exakt einer Minute die Goldmedaille gewonnen und damit einen Weltrekord aufgestellt. Für Ave ist es der erste Paralympics-Sieg, über die 100 m hatte sie in Japan zuvor bereits Bronze gewonnen. „Ich fühle mich sehr gut. Ich hätte niemals im Leben geglaubt, dass ich das schaffen kann. Jetzt bin ich überglücklich“, sagte sie: „Ich habe noch überlegt, ob ich überhaupt die Sachen für die Medaillenzeremonie mitnehme. Es war ein guter Lauf, besser hätte es nicht laufen können.“
Felix Streng (26/Wetzlar) verpasste derweil seine zweite Goldmedaille. Der 100-Meter-Sieger musste sich auf der doppelten Distanz in der Startklasse T64 in 21,78 Sekunden dem Costa Ricaner Sherman Isidro Guity Guity geschlagen geben, zum zweiten Triumph fehlten dem Topfavoriten 35 Hundertstel. „Natürlich bin ich enttäuscht. Mir ist es schon vorher in die Adduktoren reingezogen Beim Start habe ich es gleich wieder gespürt“, sagte der Prothesensprinter: „Es war komisch. Aber ich will ein guter Verlierer sein. Es waren unglaubliche Spiele für mich. Das hat heute echt wehgetan, aber das soll keine Entschuldigung sein.“
Bittere Pleite: Deutschland hat in den Mannschaftssportarten keine Medaille gewinnen können. Die Rollstuhlbasketballerinnen um die Hamburger Kapitänin Mareike Miller (31/BG Baskets) unterlagen im Spiel um den dritten Platz am Sonnabend den USA mit 51:64 und blieben damit erstmals seit den Spielen in Athen 2004 ohne Edelmetall. „Eine bittere Niederlage“, sagte Trainer Dennis Nohl. „Es hilft dir nichts, wenn du vorher alles gewinnst und dann die entscheidenden Partien verlierst, wenn es um die Medaillen geht.“ Miller war mit 26 Punkten beste deutsche Werferin.
Tiefe Schützengräben: Sportschütze Tim Focken hat als erster deutscher Kriegsversehrter bei den Paralympics zwar Geschichte geschrieben, war nach seiner verpassten Finalteilnahme aber nicht zufrieden. „Dass es nicht gelangt hat, ist blöd“, sagte der Afghanistanveteran. Rudolf Krenn, Bundestrainer der Para-Sportschützen, hat die schweren Mobbingvorwürfe von aktuellen und ehemaligen Athletinnen derweil vehement zurückgewiesen. „Es war eine Art Hetzjagd auf mich“, sagte der 62-Jährige am Sonnabend in der ARD. Der aufgekommene Skandal werde sich „aufklären. Das ist nicht in Ordnung, was da gelaufen ist. Da gibt es Hintermänner, die versucht haben, gegen uns Stimmung zu machen – schon seit vielen Jahren“, sagte Krenn. Er könne sich keinen Vorwurf machen.
„Ich habe meinem Job gut gemacht. Die Bestätigung habe ich auch vom Präsidium bekommen. Deshalb bin ich mit mir im Reinen.“ Elke Seeliger, die in Tokio am Start war, die ehemalige Paralympics-Siegerin Manuela Schmermund und die frühere Nationalkaderschützin Sabine Kames hatten Krenn zuvor schwer belastet. Von einer toxischen Umgebung, von fehlender Empathie, von Machtmissbrauch und Schikane war die Rede. Focken zeigte sich „tief erschüttert“ über die Aktion. „Das hat uns tief in ein Loch reingerissen. Wir sind alle sehr enttäuscht.“ Focken sprach von „alten Kamellen“. Dies über die Bühne Paralympics „abzuziehen, ist unangebracht und unfair den Athleten gegenüber. Wir sind die Leidtragenden“, klagte er.
Schlussbilanz: Zum Abschluss hinterließ die deutsche Mannschaft in Tokio einen positiven Eindruck. Doch in der Gesamtbilanz des Team D bei den 16. Paralympischen Sommerspielen waren diese Sternstunden nur noch Schönheitskorrekturen. Der Abwärtstrend setzt sich fort, die Top-Nationen ziehen davon – und mit Rang zwölf gab es im Medaillenspiegel das schlechteste Ergebnis überhaupt.
Dennoch zog Friedhelm Julius Beucher vor der bunten Abschlussfeier, bei der Schützin Natascha Hiltrop (29/Lengers) die nur noch kleine deutsche Mannschaft als Fahnenträgerin anführte, ein positives Fazit. „Ich finde, wir gehen sehr erfolgreich von diesen Spielen weg“, sagte der Chef des Deutschen Behindertensportverbandes (DBS).
Chef de Mission Karl Quade befand, „dass die Paralympics ihren Zweck erfüllen – Behindertensport wird auch in Länder getragen, wo früher Menschen mit Behinderung am Rande der Gesellschaft versteckt waren“. Als „Problem Nummer eins“ sieht Beucher in Deutschland die Nachwuchsförderung. Generell gäbe es „Nachholbedarf“ in Sachen Professionalisierung, ergänzte Quade: „Es gibt bei uns nur wenige Sportler, die sich zu 100 Prozent auf den Sport konzentrieren können.“ Die Basis müsse sich „deutlich vergrößern“.