Hamburg. Hamburgs Tennisidol über die Bedeutung von Mentalität im Sport – und was er als HSV-Coach vor dem Derby sagen würde.
Er habe, wie alle Menschen unter dem Eindruck der Corona-Krise, gute und schlechte Tage, sagt Michael Stich (52). Weil der Wimbledonsieger von 1991 weder mit seiner Stiftung wohltätige Events organisieren noch als Vortragsredner bei Veranstaltungen seiner Partnerfirmen auftreten kann, hat er aktuell viel Zeit, sich mit dem Sammeln zeitgenössischer Kunst zu beschäftigen oder mit seinen Hunden lange Spaziergänge zu unternehmen.
Am Freitag war der langjährige Rothenbaum-Turnierdirektor zum Gespräch mit dem Abendblatt über das Thema „Mentalität im Sport“ in seinem Büro in Eppendorf zweifelsohne in guter Form.
Hamburger Abendblatt: Herr Stich, im Leistungssport hat sich die Auffassung verfestigt, dass ein Mangel an Erfolg gern mit Charakterschwäche erklärt wird. Teilen Sie diese Auffassung?
Michael Stich: Überhaupt nicht. Erfolg hat mit Charakter gar nichts zu tun. Unter dem Begriff Charakter werden persönliche Eigenschaften zusammengefasst, die einen Menschen auszeichnen. Menschen, die mit Druck nicht umgehen können, können ihre Leistung nicht abrufen wie gewünscht und vermitteln dann bisweilen den Eindruck, als wäre ihnen das egal. Das wird als Charakterschwäche ausgelegt, ist in Wahrheit aber ein Mangel an Mentalität.
Die US-Amerikanerin Jennifer Brady gehörte bei den Australian Open zu den 72 Tennisprofis, die wegen der harten Quarantäneregeln 14 Tage lang ihr Hotel nicht verlassen und sich deshalb nicht adäquat auf das Turnier vorbereiten konnten. Dennoch hat sie das Finale erreicht, während die meisten anderen, denen es ging wie ihr, früh ausschieden. Wie ist so etwas zu begründen?
Stich: Ich kenne Jennifer Brady nicht persönlich, versuche deshalb, das mit einem Beispiel aus meiner Karriere zu erklären. Während meiner Rivalität mit Boris dachte ich anfangs, dass alle, die für ihn waren, automatisch gegen mich seien. Das hat mich auf Turnieren manches Mal gehemmt. Irgendwann habe ich den Umkehrschluss gezogen, dass die, die nicht für mich waren, einfach nur für jemand anderen waren, aber nicht gegen mich. Daraus habe ich gelernt, mich über diejenigen zu freuen, die auf meiner Seite waren, und das hat meine Mentalität positiv beeinflusst. Um zu Ihrer Frage zurückzukommen: Es kommt immer darauf an, wie ich Situationen, die ich nicht verändern kann, annehme.
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Das heißt: Wer glaubt, dass er nach 14 Tagen Quarantäne kein Turnier gewinnen kann, wird es nicht schaffen?
Stich: Richtig. Man verlernt ja innerhalb von zwei Wochen nicht das Tennisspielen. Es ist eine Frage der Mentalität, wie man Gegebenheiten annimmt. Man muss versuchen, eine Freude auf das zu entwickeln, was vor einem liegt, und nicht das in den Vordergrund zu stellen, was negativ laufen könnte. Auch dazu Beispiele aus meiner aktiven Zeit. Ich hatte nie Probleme mit dem Jetlag, aber es gab ein Jahr, da habe ich es in Australien über sieben Tage nicht hingekriegt, mich daran zu gewöhnen, weil ich mich zu sehr daran festgehalten habe, welche negativen Einflüsse die Müdigkeit auf mein Spiel haben könnte. Ähnlich war es mit Tokio. Ich musste dort antreten, habe mich aber in der Stadt nicht wohl gefühlt, mochte das Turnier nicht und habe deshalb dort nie gut gespielt. Wer mit einer negativen Grundhaltung antritt, wird keinen Erfolg haben.
Barbara Rittner, Damenchefin im Deutschen Tennis-Bund, hat zuletzt mehrfach die Mentalität des Nachwuchses kritisiert, auch im Herrenbereich gibt es diese Vorwürfe. Sehen Sie in Deutschland ein Mentalitätsproblem im Sport, weil es viele Wege zum Wohlstand gibt und Sport vielen zu mühsam erscheint?
Stich: Ich kann das als Außenstehender zu wenig beurteilen. Dennoch muss man sich im System des Leistungssports, denn das Problem ist nicht auf Tennis beschränkt, die Frage stellen, warum es zu solchen Aussagen kommt und ob das nur an den Sportlerinnen und Sportlern liegt. Wenn ein Vorstand eines Wirtschaftsunternehmens sagt, dass seine Mitarbeitenden nicht ordentlich arbeiten, ist es als Führungskraft seine Aufgabe, dafür zu sorgen, dass sie es tun. Ein Rafael Nadal hatte mit 15 auch nicht dieses Gen, das ihn zu einem erfolgsbesessenen Arbeiter gemacht hat. Er hat es durch Führung, durch Motivation, durch Fordern und Belohnung verinnerlicht. Wobei ich einschränkend sagen muss, dass im Sport immer auch körperliche Einschränkungen eine Rolle spielen können, die mit Mentalität nicht auszugleichen sind.
Spielt der Hunger, durch den Sport ein besseres Leben zu erreichen, tatsächlich keine Rolle? Sie stammen aus einer bürgerlichen Mittelstandsfamilie ohne finanzielle Not und haben es auch in die Spitze geschafft.
Stich: Ich glaube schon, dass es eine Zeit gab, in der beispielsweise in vielen Staaten Osteuropas der Antrieb groß war, über den Sport das Land verlassen und zu Wohlstand kommen zu können. Heute sehe ich das nicht mehr. Ich schätze, dass von 100 Athleten 90 Leistungssport betreiben, weil sie ihre Grenzen ausloten und maximalen Erfolg haben wollen, und zehn, weil sie auch wirtschaftliche Zwänge dazu treiben. Der Ehrgeiz, nach dem größtmöglichen Ziel zu streben, ist für den ganz überwiegenden Teil der Athleten der Antrieb, Profisport zu betreiben.
Die aktuellen Corona-Fallzahlen aus ganz Norddeutschland:
- Hamburg: 2311 neue Corona-Fälle (gesamt seit Pandemie-Beginn: 430.228), 465 Covid-19-Patienten in Krankenhäusern (davon auf Intensivstationen: 44), 2373 Todesfälle (+2). Sieben-Tage-Wert: 1435,3 (Stand: Sonntag).
- Schleswig-Holstein: 1362 Corona-Fälle (477.682), 623 Covid-19-Patienten in Krankenhäusern (Intensiv: 39). 2263 Todesfälle (+5). Sieben-Tage-Wert: 1453,0; Hospitalisierungsinzidenz: 7,32 (Stand: Sonntag).
- Niedersachsen: 12.208 neue Corona-Fälle (1.594.135), 168 Covid-19-Patienten auf Intensivstationen, 7952 Todesfälle (+2). Sieben-Tage-Wert: 1977,6; Hospitalisierungsinzidenz: 16,3 (Stand: Sonntag).
- Mecklenburg-Vorpommern: 700 neue Corona-Fälle (381.843), 768 Covid-19-Patienten in Krankenhäusern (Intensiv: 76), 1957 Todesfälle (+2), Sieben-Tage-Wert: 2366,5; Hospitalisierungsinzidenz: 11,9 (Stand: Sonntag).
- Bremen: 1107 neue Corona-Fälle (145.481), 172 Covid-19-Patienten in Krankenhäusern (Intensiv: 14), 704 Todesfälle (+0). Sieben-Tage-Wert Stadt Bremen: 1422,6; Bremerhaven: 2146,1; Hospitalisierungsinzidenz (wegen Corona) Bremen: 3,88; Bremerhaven: 7,04 (Stand: Sonntag; Bremen gibt die Inzidenzen getrennt nach beiden Städten an).
Halten Sie das duale System aus Leistungssport und Ausbildung, das in Deutschland sehr hoch angesehen ist, für den richtigen Weg? Oder braucht es 100 Prozent Konzentration auf eine einzige Sache, um maximalen Erfolg zu haben?
Stich: Das duale System haben wir in Deutschland, weil viele allein durch ihren Sport nicht das Auskommen haben, um sich nur auf Training und Wettkämpfe konzentrieren zu können. Deshalb empfinde ich das System als positiv, bin aber auch der Überzeugung, dass alle Athletinnen und Athleten, die ihr Land bei Großereignissen wie Olympia vertreten, mindestens zwölf Monate vorher vom Staat finanziell so gut ausgestattet werden sollten, dass sie sich komplett darauf konzentrieren können, die Leistung abzurufen, die die Öffentlichkeit von ihnen erwartet. Geld dafür ist in diesem Land vorhanden, daran darf es nicht scheitern.
Viele, die das duale System nutzen, empfinden es als Bereicherung, weil es eine Ablenkung für den Kopf bietet. Auch das hat mit Mentalität zu tun, mental auch manchmal runterfahren zu können.
Stich: Ohne Frage, das halte ich für sehr wichtig, und zwar in jedem Bereich des Lebens. Es muss Momente geben, in denen der Spaßfaktor im Vordergrund steht und man sich freimachen kann vom ständigen Streben nach Erfolg. Für mich war das früher das Golfen, ich habe aber auch schon zu meiner aktiven Zeit angefangen, mich für Kunst zu interessieren. Manchmal braucht es diesen Schritt zur Seite, um den Blick zu schärfen und schätzen zu können, dass man im Hauptberuf tun kann, was man wirklich liebt.
Heute arbeiten Berufssportler mit Sportpsychologen oder Mentalcoaches. Zu Ihrer Zeit gab es das nicht. Wie haben Sie Siegermentalität erlernt? Ist sie für jeden erlernbar?
Stich: Grundsätzlich ja, es gibt aber für jeden Menschen individuelle Grenzen. Für mich stand immer im Vordergrund, dass ich nach dem Höchsten gestrebt habe, was für mich erreichbar schien, ich aber gleichzeitig auch sicher war, mit Scheitern kein Problem zu haben. Viele Entscheidungen werden nicht getroffen, weil Menschen Angst davor haben zu scheitern. Im Tennis scheitern jede Woche bei jedem Turnier alle bis auf die Sieger. Daraus lernt man, damit umzugehen. Man kann Erfolge nur feiern, wenn man mit Niederlagen leben kann. Was man nie tun darf: grundsätzlich an seiner Leistungsfähigkeit zu zweifeln.
Im Einzelsport ist man allein für sich verantwortlich, im Teamsport auf andere angewiesen. Was verändert das hinsichtlich der eigenen Mentalität?
Stich: Ich stelle es mir tatsächlich sehr schwierig vor, im Team verschiedenste Charaktere so zu vereinen, dass eine gemeinsame Mentalität entsteht. Eins aber haben alle Sportarten gemeinsam: Nur wenn sich alle dem gleichen Ziel unterwerfen, kann eine Einheit funktionieren. Nur wenn alle ihre Aufgaben kennen und ihre Rolle akzeptieren, wird man Erfolg haben. Das gilt auch im Einzelsport, hinter jedem Athleten steht ein Team.
Sie sind HSV-Mitglied, verfolgen den Weg der Fußballer. Vor dem Würzburg-Spiel am vergangenen Sonntag haben viele Fans befürchtet, dass der HSV als Tabellenführer beim Letzten stolpern würde. Wie erklären Sie sich, dass er tatsächlich gestolpert ist?
Stich: Ich kenne die Struktur im Team ebenso wenig wie die Umstände, die dazu geführt haben. Ob sich die Mannschaft der Außensicht der Fans bewusst war, weiß ich nicht. Der Eindruck, der sich in den vergangenen beiden Jahren, als der Aufstieg verpasst wurde, aufgedrängt hat: Je näher das gesetzte Ziel rückte, desto größer wurde die Unsicherheit. Das passiert, wenn man anfängt, über das Scheitern nachzudenken. Ich selbst hatte das 1996 in Paris, als ich bei den French Open völlig unerwartet das Finale erreichte. Davor habe ich zum ersten Mal darüber nachgedacht, dass ich den Titel gewinnen, aber auch verlieren könnte. Diese zehn Sekunden, in denen ich mir meine Fehlbarkeit vergegenwärtigt habe, haben ausgereicht, dass ich tatsächlich verlor.
Am Montag tritt der HSV zum Derby beim FC St. Pauli an, der aktuell in Topform ist. Was würden Sie dem Team sagen, wenn Sie Trainer wären?
Stich: Ich würde sagen, dass es nicht einmal den leisesten Zweifel gibt, dass wir das Spiel gewinnen werden, weil wir Tabellenführer und die bessere Mannschaft sind. Eine Niederlage ist keine Option, und genauso müssen wir auftreten. Aber ich war noch nie Fußballtrainer, keine Ahnung, ob das gut ankommen würde.
Seit fast einem Jahr hält Corona auch den Sport im Klammergriff, vor allem Jugendliche dürfen nicht trainieren, haben keine Wettkämpfe. Welche Folgen fürchten Sie?
Stich: Natürlich ist das eine sehr harte Phase, denn Sport bringt gerade Kindern und Jugendlichen wichtige soziale Kontakte. Wettkämpfe prägen. Fallen sie weg, fehlt die Messbarkeit der eigenen Leistungsfähigkeit. Aber gerade in dieser Zeit gilt das, was wir eingangs besprachen: Wer mit einem positiven Ansatz an diese Krise herangeht, wer die Dinge, die nicht zu beeinflussen sind, hinnimmt und an dem arbeitet, was möglich ist, der wird am besten aus dieser Phase herauskommen, auch wenn dies für Kinder sicher schwierig ist. Man kann mit Ersatzwettkämpfen, die man sich selbst schafft, das Gewinnen und Verlieren auch für sich allein oder auf Entfernung mit anderen trainieren. Es kommt auf die Einstellung an.
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Dennoch ist wieder einmal deutlich zu spüren, dass dem Sport die Lobby fehlt, dass sein gesellschaftlicher Stellenwert nicht ausreichend anerkannt wird. Ärgert Sie das?
Stich: Auf jeden Fall. Sport bleibt die größte sozialverbindende Komponente unserer Gesellschaft, vom wirtschaftlichen Faktor ganz zu schweigen. Dennoch wird der Leistungssport noch immer als elitärer Zirkel gesehen, in dem wenige viel Geld verdienen, während die enorm wichtige Funktion des Breitensports weiterhin unterschätzt wird. Ich habe ja schon vor zehn Jahren gesagt, dass Deutschland und jedes Bundesland einen Sportminister oder eine Sportministerin braucht, die sich dafür stark machen müssten, die Bedeutung des Sports zu erhöhen.
Wann kandidieren Sie?
Stich: Gar nicht, weil es dieses Amt leider nicht gibt. Und mit hypothetischen Fragen beschäftige ich mich nicht.