Hamburg. Talent Nils Vorberg vom RC Favorite Hammonia über sein Auslandsstudium in Seattle – und das irritierende Wahl-Geschehen rund um Trump.
„Die gefährlichste Weltanschauung ist die jener Menschen, die die Welt nie angeschaut haben.“ Dem großen Forschungsreisenden Alexander von Humboldt, der im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert zu Weltruhm gelangte, wird dieses Zitat zugeschrieben, und Nils Vorberg hat in den vergangenen Wochen eindrucksvolle Beweise für dessen Gültigkeit sammeln können. In seiner aktuellen Heimatstadt Seattle erlebte das 21 Jahre alte Rudertalent vom Hamburger Traditionsclub RC Favorite Hammonia die Wirren der US-Präsidentenwahl mit. Manches, was er dort sah, habe er kaum glauben können.
„Das Schlimmste ist der Hass, den Donald Trump mit seiner Weltanschauung verursacht hat“, sagt er, „diese extreme Ablehnung des politischen Gegners habe ich vorher noch nie wahrgenommen. Die meisten Menschen in Europa können sich damit arrangieren, wenn ihre Partei oder ihr Kandidat nicht siegen. Hier sind die Gräben zwischen Demokraten und Republikanern so tief, dass ich nicht weiß, wie sie überwunden werden sollen.“ Die Freudenfeier auf den Straßen Seattles, als die großen Medien den Sieg Joe Bidens über Trump vermeldeten, habe ihn irritiert. „Da waren trotz der Corona-Pandemie Zehntausende unterwegs, es wurden Trump-Puppen zertrampelt. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Ähnliches auch in Deutschland denkbar wäre“, sagt er.
Nun ist Nils Vorberg nicht als Wahlbeobachter in die 750.000-Einwohner-Stadt im Bundesstaat Washington, im Nordwesten der USA am Pazifik gelegen, gereist. Dass er das politische Geschehen dennoch mit wachem Geist verfolgt, liegt daran, dass er an der University of Washington seit Januar 2019 International Studies und Political Science studiert, internationale und politische Wissenschaften. Wenn alles wie geplant läuft, wird er im Sommer 2022 mit zwei Bachelor-Abschlüssen nach Deutschland zurückkehren. Und da der Unterricht trotz der Pandemie zumindest online stattfinden konnte, geht er davon aus, dass er seinen Zeitplan einhalten wird.
USA-Pläne reifen bei der Nachwuchs-WM
Dass er überhaupt einmal in den USA studieren würde, daran hatte Nils Vorberg als Jugendlicher keinen Gedanken verschwendet. 2017 war er erstmals in die Vereinigten Staaten gereist, um mit Clubkameraden der „Fari“, wie sein Verein in Ruderkreisen genannt wird, beim Traditionsrennen „Head of the Charles“ in Boston anzutreten. „Das gefiel mir so gut, dass ich dachte, dass es cool sein könnte, in den USA zu studieren.“
Doch erst ein Jahr später, bei der U-23-WM im polnischen Posen, wurde aus einer fixen Idee ein Plan. Der Cheftrainer des Ruderteams der University of Washington, der den US-Achter in Posen zu Gold coachte, fragte Nils Vorberg, der mit seinem Zweierpartner Hans-Christian Lütje vom Hamburger und Germania RC überraschend das A-Finale erreicht hatte, ob er sich vorstellen könne, in Seattle zu studieren und fürs Uni-Team zu rudern. Nach einem Campus-Besuch im Herbst 2018 konnte er das – und so nahm Nils Vorberg das offerierte Stipendium an.
Sportler werden kostenlos auf Corona getestet
Die ersten sechs Monate lebte er im Wohnheim auf dem Campus. Da das Stipendium allerdings die Mietkosten nur für das erste Halbjahr abdeckt und diese mit 1200 Euro monatlich kaum erschwinglich waren, teilt sich Vorberg mittlerweile mit fünf Kommilitonen ein Haus in einer ruhigen Wohngegend der Stadt, die er vor allem wegen ihrer abwechslungsreichen Natur lieben gelernt hat. Insbesondere in der Zeit des Lockdowns, der in Seattle von März bis Anfang Juli dauerte, sei er viel in den Bergen und der Seenlandschaft im Umland unterwegs gewesen.
„Die Lebensqualität ist extrem hoch“, sagt er, was sich auch an der medizinischen Betreuung bemerkbar mache. Während in weiten Teilen der von Corona weltweit am übelsten heimgesuchten USA (aktuell rund 11,3 Millionen Fälle mit knapp 250.000 Todesopfern) die Hospitäler überlastet sind, werden Leistungssportler in Seattle an der dort ansässigen Uniklinik jede Woche kostenfrei getestet. Überhaupt sei die Versorgung einwandfrei. Vor Corona gab es ein Restaurant, in dem alle Sportstipendiaten gemeinsam verpflegt wurden. Aktuell, da Anfang der Woche neue Beschränkungen verhängt wurden, erhalten die Studenten wie während des ersten Lockdowns täglich 20 Dollar Essensgeld.
Rudern vor einem grandiosen Panorama
Nils Vorberg ist überzeugt davon, dass seine Entscheidung auch sportlich die richtige war. In Deutschland hätte er als Bundeskadermitglied am Stützpunkt in Dortmund trainieren müssen. „Hier habe ich bessere Bedingungen und messe mich täglich mit einigen der besten internationalen U-23-Athleten“, sagt er. 46 Athleten umfasst das Ruderteam, für das er im ersten Achter fährt. 15 davon sind international, darunter Sportler aus Australien, Neuseeland, Großbritannien, den Niederlanden und mit Max Schwarzkopf (Frankfurt am Main) und Sebastian Ritter (Regensburg) zwei weitere Deutsche.
Trainiert wird auf dem Lake Washington und dem Lake Union, der am frühen Morgen, wenn Ruderer bevorzugt unterwegs sind, ein grandioses Panorama der Skyline Seattles bietet. Rudern hat in Seattle eine große Tradition. Alle Mitglieder des US-Achters, der bei den Olympischen Sommerspielen 1936 in Berlin Gold gewann, stammten aus der Stadt. Ihre Geschichte wird im 2013 erschienenen Buch „The Boys in the boat“ von Daniel James Brown erzählt. „Als Ruderer ist man in Seattle durchaus angesehen“, sagt Nils Vorberg.
Was HSV-Fan Vorberg am meisten vermisst
Das Einzige, das aktuell fehlt, sind Wettkämpfe. Bis Jahresende sind – außer im Football – alle College-Sportarten im Pausenmodus. Ein Vereinssystem wie in Deutschland kennen die USA nicht. Die Rudersaison soll im März beginnen. „Im Training fahren wir seit August, als wir nach dem Lockdown wieder starten durften, nur im Einer. Mit internen Regatten über 6000 Meter versuchen die Coaches, Wettkämpfe zu simulieren. Aber das ist natürlich nicht mit echten Wettkämpfen vergleichbar“, sagt Vorberg.
Da er also derzeit sportlich wenig versäumt und die Uni Ende November in die Weihnachtspause geht, wird der HSV-Fan, der die Zweitligaspiele mit neun Stunden Zeitunterschied auch in Seattle live schaut, Weihnachten bei seiner Familie in Schenefeld verbringen. Sofern der gebuchte Flug auch wie geplant stattfindet und ihm die Wiedereinreise in die USA nicht verwehrt wird. Der Politikstudent setzt dabei auf die Einsicht des neuen Präsidenten Biden – und freut sich bei seiner Rückkehr nach einem Jahr ganz besonders auf Brot und Brötchen. „Eine gute Bäckerei ist das, was mir in Seattle am meisten fehlt“, sagt er. Manchmal sind es beim Anschauen der Welt auch kleine Dinge, die besonders auffallen.