Hamburg. Mit nur einem Atemzug ist Tolga Taskin 74,8 Meter im Eiswasser getaucht. Im Rausch der Tiefe findet er dabei die maximale Ruhe.
Wer an den kalten Tagen der Wintermonate im Hammer Park spazieren ging, konnte mit großer Wahrscheinlichkeit einen jungen Mann dabei beobachten, wie er sich auf einer Wiese bis auf die Badehose seiner Kleidung entledigte und auf einer Yogamatte mit Atemübungen begann. Was, sagen wir einmal, zumindest seltsam anmutete. Das Adaptieren an die Kälte gehörte aber zur normalen Vorbereitung von Tolga Taskin auf den großen Tag, um einen offiziellen Guinness-Weltrekord aufzustellen: Tieftauchen mit einem Atemzug unter einer geschlossenen Eisdecke.
Mitte Februar machte sich der 29-Jährige mit einem 20-köpfigen Team inklusive Familie nach Österreich zum Weissensee auf, der 930 Meter über dem Meeresspiegel liegt und damit der höchstgelegene der großen Kärntner Badeseen ist. Mit bis zu 99 Meter Tiefe erfüllte er eine wesentliche Bedingung, die zweite: Der See war von einer 30 Zentimeter dicken Eisschicht bedeckt.
Die Kälte ist der größte Feind des Apnoetauchers
74,8 Meter – so tief wollte Taskin tauchen, was bisher noch keinem Menschen unter diesen Bedingungen gelungen ist. „Die Kälte ist der größte Feind des Apnoetauchers“, erklärt er, „der Körper sendet viel schneller ein klares Signal: Geh raus aus dieser Situation! Atme! Du bekommst einen Atemreiz, was sich in einer Zwerchfell-Kontraktion äußert.“ Erschwerend kam hinzu, dass die Sauerstoffkonzentration auf der Höhe etwas geringer ausfiel. Von der mentalen Herausforderung, in einen dunklen See abzutauchen, ganz zu schweigen.
Nach knapp zweiwöchigem Training war es so weit: Am 25. Februar betrat Taskin das Eis. Während sein Team die letzten Vorbereitungen traf, zog er sich zurück, 30, 40 Minuten weg von allem, was ihn ablenken konnte. Er legte sich auf den Rücken und begann mit Meditation, Atemübungen, um zur Ruhe zu kommen, den Puls runterzufahren, Stress abzubauen und Ängste zu lösen. „Ich bin nicht spirituell, aber für mich hat jeder See eine Seele und ich versuche Kontakt aufzunehmen, und Vertrauen aufzubauen. Das gibt mir Ruhe beim Tauchgang.“ Zum Programm gehören auch Übungen für das Zwerchfell, das Dehnen der Lunge. Mit einer speziellen Technik, die Taskin „Packing“ nennt, kann er drei, vier Liter mehr Luft in seine Lunge „packen“ als normale Menschen.
„Als ich bereit war, ging ich ganz entspannt ins Eiswasser und hielt mich am Schlitten fest.“ Die 20 Kilo schwere Selbstanfertigung sollte Taskin wenige Augenblicke später in die Tiefe ziehen. „Die besten Tauchgänge habe ich immer dann, wenn ich kurz vorher noch wegdämmere, wie bei einem Mittagsschlaf.“ Der Puls geht im Idealfall auf unter 40 Schläge pro Minute runter. In den letzten Augenblicken ist es wichtig, die Entspannung zu konservieren.
„Es ist wie ein Loslassen, ein Aufgeben“
Zu Beginn eines jeden Tauchgangs, also auch an jenem 25. Februar, ging es zunächst langsam abwärts. Der Neopren-Anzug gab noch Auftrieb, die Lunge war noch nicht so komprimiert wie in der Tiefe, wo bis zu acht Bar auf dem Körper lasteten. „Die eigentliche Herausforderung ist, mit dem enormen Druck umgehen zu können“, sagt Taskin, der während der gesamten Zeit die Augen geschlossen hielt, begleitet von zwei Gerätetauchern.
Genau dann, wenn viele Taucher unruhig werden, weil der Schlitten immer schneller nach unten rauscht, setzten bei Taskin die Glücksgefühle ein: „Alles rüttelt und rattert, das Eiswasser quetscht sich in den Neoprenanzug. Aber ich habe dabei noch nie Angst empfunden.“ Pause. „Es ist wie ein Loslassen, ein Aufgeben.“
Lebensmüde ist er nicht
Lebensmüde, das betont Taskin sofort, ist er nicht ein bisschen. Auch mit einem Adrenalinkick hat sein Sport nichts zu tun. Im Rausch der Tiefe findet er die maximale Ruhe. „Ich glaube nicht, dass man ohne Medikamente oder Drogen so einen Zustand der Tiefenentspannung erreichen kann wie beim Freitauchen. Du kannst alles hinter dir lassen.“
Nach knapp zwei Minuten hatte Taskin die Tiefe von 74,8 Metern erreicht. Jetzt musste jeder Handgriff sitzen. Innerhalb von nur 15 Sekunden machte er einen Lufthebesack bereit, der ihn innerhalb von rund 30 Sekunden wieder Richtung Oberfläche sausen ließ. „2,5 Meter pro Sekunde im Wasser, umgeben von Blubberblasen, das fühlt sich wie ein Ritt auf einer Kanonenkugel an.“ 30 Meter vor der Ankunft ließ er das Seil los und schwamm ans Eisloch. Auch Tieftaucher müssen auf den Druckausgleich, also den Stickstoffabbau, achten, obgleich nicht so extrem wie Gerätetaucher.
Jubel und Erleichterung
Oben wartete nach exakt 2.43 Minuten Tauchzeit sein Vater. Die Mutter zog das Ufer vor. Der Rest war Jubel. Und Erleichterung. „Wie eine Geburt“, so beschreibt Taskin die Rückkehr ans Licht.
Später sah er auf dem Video, das seinen geglückten Weltrekordversuch dokumentierte, wie er einem Sicherheitsbegleiter das Okay-Zeichen gab. Eine Szene, an die er sich nicht mehr erinnert. Taskin bezeichnet diese Gedächtnislücke als Folge eines „kleinen Tiefenrausches“, bedingt auch dadurch, dass Sauerstoff ab 45 Meter toxisch wird.
Das alles klingt gefährlich. Ohnmächtig zu werden ist das größte Risiko der Apnoetaucher. Doch Taskin betont: „Mir ist kein Unfall bekannt, wo bei einer klassischen Sicherung jemand sein Leben verloren hat. Das ist nur passiert, wenn jemand alleine tauchen war.“
Gleichwohl ist ihm bewusst, dass nicht alle Risikofaktoren auszuschalten sind. Anfangs hatte Taskin das Seil an einer Boje befestigt. Doch weil sich diese einmal unter der Eisschicht bewegte, kam er nach einem Tauchgang 15 Meter neben dem Loch hoch. Es dämmerte schon, doch zum Glück hatte er eine Taschenlampe am Ausgang deponiert, an der er sich orientieren konnte. „Ich habe danach zwei Nächte schlecht geträumt.“ Als Konsequenz daraus baute sein Team eine Dreibeinkonstruktion, an der das Seil jetzt verankert ist.
Taskin organisiert und leitet 20 Freitauchschulen
Woher seine Leidenschaft für das Tauchen kommt, ist einfach: Taskin ist in Barmbek geboren und in Ahrensburg aufgewachsen. Aber sein Name erinnert an seine Wurzeln. Da sein Opa sein Geld als Fischer in der Türkei verdiente, verbrachte er in den Urlauben schon damals mit den anderen Kindern viel Zeit im Wasser. „Ich erinnere mich noch daran, dass wir mit der Harpune nach Fischen gejagt haben“, sagt Taskin. „Doch auch ohne Harpune blieb die Lust am Tauchen, hier hat sich meine Leidenschaft entwickelt. Schnell habe ich gemerkt, wie leicht mir das alles fällt.“
Aus seinem Talent hat Taskin längst seinen Beruf macht. Er organisiert und leitet 20 Freitauchschulen in Deutschland, darunter am Kreidesee Hemmoor. Abenteuer wie im Weissensee kann er nur deshalb realisieren, weil ihn zwei Sponsoren unterstützen: Agua Lung, ein Tauchsportausrüster, und ein Uhrenhersteller aus Glashütte (Tutima). „Aber die Hälfte der Kosten muss ich selbst tragen“, gibt er zu.
Er will seine Liebe zum Tauchen weitergeben
Und jetzt? Sind 74,8 Meter das Ende? Noch nicht. „Ich liebe das Tauchen, diese Extreme und habe schon immer diese Neugierde in mir gehabt, wie weit ich gehen kann, was kommt danach? Aber ich will ehrlich sein: Ich mache das auch, um mir einen Namen zu machen, ein Image aufzubauen. Schließlich kann ich das nicht ewig machen.“ Später will er über seine (Grenz-)Erfahrungen Vorträge halten und natürlich seine Liebe zum Tauchen weitergeben.
„Es müssen ja nicht 74,8 Meter sein“, lädt er zum Abschied auf einen Tauchgang ein. „Wenn du die Luft anhältst und alles in dir schreit: atme! Du aber gleichzeitig alles kontrollieren kannst, dann ist das eine unglaubliche Erfahrung. Wenn du wieder auftauchst, hast du alles an Emotionen erlebt. Alles, was du womöglich vorher an negativen Dingen erlebt hast, ist weg. Es ist wie ein Reset.“ Und es sei wie ein genialer Ausgleich vom stressigen Alltag, von der schnelllebigen Welt.