Hamburg. Hamburgs Sport feierte viele Erfolge. Doch daneben stehen Olympia-Aus, HSV-Abstieg, Freezers-Ende und die Insolvenz der Handballer.
Es regnete wie aus Eimern, als das gerade erst begonnene HSV-Jahrzehnt buchstäblich ins Wasser fiel. Der 29. April 2010, Craven Cottage in London. Nach einem torlosen Unentschieden im Hinspiel der Europa League hätte dem HSV bereits ein Remis mit mindestens einem erzielten Tor im Rückspiel beim FC Fulham gereicht, um das Endspiel zu erreichen. Das Finale im eigenen Stadion, wohl gemerkt.
„Es sollte das i-Tüpfelchen auf ein überragendes HSV-Jahrzehnt werden“, sagt Bernd Hoffmann, der sich noch heute „an jede Sekunde dieses Tages“ erinnern kann. Auch dass Fulhams Edelfan Hugh Grant ihm bereits in der Halbzeit auf der Tribüne gratulierte, nachdem Mladen Petric den HSV mit einem Traumtor in Führung geschossen hatte. Doch es sollte anders kommen: Erst das 1:1 (70.), nur fünf Minuten später das 1:2. Der Rest des Abends: viel Trauer und viel Regen.
„Stani“ besiegt den HSV, steigt ab und sagt Tschüs
Trauer, Tränen und ein bisschen Regen – vielmehr bleibt möglicherweise auch gar nicht übrig, wenn man nun am 31. Dezember einen fetten Strich unter Hamburgs Sport-Jahrzehnt zieht. Der HSV verpasst nicht nur das Europa-League-Finale im eigenen Stadion, sondern verliert in der restlichen Dekade auch so ziemlich alles andere: Spiele, Trainer, Sportchefs, Clubchefs, die Bundesligazugehörigkeit und zwischendurch sogar den letzten Rest von Respekt.
Viel besser ergeht es aber auch dem FC St. Pauli nicht, der zwar einmal kurz in die Bundesliga reinluschert, sich dann aber schnell wieder in die Zweitklassigkeit verabschiedet. Dort ist auch der HSV Handball angekommen. Nachdem Hamburg noch Anfang dieser Dekade zu den Handball-Hauptstädten dieser Welt gehörte, ist davon schon lange nichts mehr übrig. Auch erstklassiges Eishockey hat sich aus der Hansestadt verabschiedet, genauso wie erstklassiges Volleyball. Und die Hamburger? Die hatten wohl ohnehin keine große Lust auf erstklassigen Sport – und votieren mit einer hauchdünnen Stimmenmehrheit gegen eine Olympiabewerbung der Stadt für die Sommerspiele 2024 und 2028.
Halt! Stopp! Bevor Hamburgs Sportjahrzehnt tatsächlich als Pleiten-Pech-und-Pannen-Dekade in die Geschichte eingeht, muss rechtzeitig vor dem Silvesterfeuerwerk auch noch an viele sportliche Kracher und Knaller erinnert werden. An jede Menge Großveranstaltungen im Herzen der Stadt, an olympische Goldmedaillen made in Hamburg und an zahlreiche Welt- und Europameister aus der Hansestadt. Die Towers haben Hamburg auf die Basketball-Deutschlandkarte zurückgeholt – in Hockey und im Rudern ist und bleibt Hamburg Weltspitze. Und wer weiß: Vielleicht gibt es gleich zu Anfang des neuen Jahrzehnts auch noch eine Versöhnung zwischen Hamburg und König Fußball. Eine Rückkehr des HSV in die Fußball-Bundesliga wäre ein erster guter Schritt.
Der ewige Holger Stanislawski verabschiedet sich
Ein Schritt, den der FC St. Pauli dem Lokalrivalen zum Anfang des vergangenen Jahrzehnts vorgemacht hat. Die Kiezkicker steigen wenige Tage nach dem HSV-Fulham-Albtraum auf, besiegen die Rothosen im Volkspark 1:0, steigen danach aber sang- und klanglos wieder ab. Der ewige Holger Stanislawski verabschiedet sich – genauso wie die braun-weiße Hoffnung, irgendwann mal wieder Bundesligaluft am Millerntor zu schnuppern.
Immerhin: Im Juli 2015 wird der Millerntor-Stadion-Neubau fertiggestellt, am 25. Juli 2015 folgt vor 29.546 Zuschauern das erste Pflichtspiel gegen Arminia Bielefeld. Und wie im Rest des Jahrzehnts ist auch dieses Spiel ein großes Fußballfest, das wie im Rest des Jahrzehnts nur zwei Schönheitsfehler hat: den gebotenen Sport und das Ergebnis. 0:0 nach 90 Minuten.
Sehr viel mehr Tore fallen im Mai 2011, als ganz Hamburg dem HSV huldigt – dem HSV Handball. Mit 35:30 siegen die Hamburger gegen Gummersbach und sichern sich so ihre erste deutsche Meisterschaft. Und es soll noch viel besser kommen: Nur zwei Jahre später folgt in Köln der Triumph in der Champions League. Im Finale bezwingt die Mannschaft von Erfolgstrainer Martin Schwalb in der Verlängerung den FC Barcelona mit 30:29.
HSV Handball sucht die Rückkehr in die Bundesliga
Hamburg ist im Handball-Himmel – und landet zweieinhalb Jahre später in der Hölle: Die Betriebsgesellschaft des Clubs ist pleite, Präsident, Sponsor und Mäzen Andreas Rudolph ist nicht mehr bereit, weiteres Geld zu investieren. 50 Millionen Euro waren es bis dahin. Im Januar 2016 meldet Insolvenzverwalter Gideon Böhm das Team aus der Bundesliga ab. Der Stammverein versucht seitdem auf solider finanzieller Grundlage die Rückkehr in die Erste Liga. Auf dem Weg von der viertklassigen Oberliga Hamburg/Schleswig-Holstein ist er jetzt in der ersten Tabellenhälfte der Zweiten Bundesliga angekommen.
Ist Hamburgs Sport in den 2010ern also lediglich zweitklassig? Natürlich nicht. Dabei sind es nicht die klassischen Zuschauersportarten wie Fußball, Handball oder Eishockey, die Hamburgs Sportbilanz aufpolieren. 2012 sind es die deutschen Rollstuhlbasketballerinnen, die das Jahr zu einem goldenen machen. Das Team um die HSV-Spielerinnen Maja Lindholm und Edina Müller gewinnt unter dem Hamburger Bundestrainer Holger Glinicki die Goldmedaille bei den Paralympischen Spielen von London. Vier Jahre später wird der Triumph fast noch mal wiederholt. In Rio de Janeiro holen Glinickis Ladys 2016 Silber.
Ganz ähnlich ist die Verteilung auch im Rudern. Hamburgs Jahrhundert-Ruderer Eric Johannesen holte mit dem Deutschland-Achter ebenfalls 2012 in London Gold, gefolgt von Silber 2016 in Rio de Janeiro. Nicht zu vergessen: 2011 wird er Weltmeister, insgesamt viermal Europameister. Dem will der kleine Bruder Torben, sechs Jahre jünger (25), fünf Zentimeter kleiner (1,88 Meter) und sechs Kilogramm leichter (93) als Eric, nicht nachstehen. 2018 und 2019 ist der Kleine der Größte und wird jeweils Welt- und Europameister.
Der Allergrößte 2012 ist Hamburgs Hockey-Superstar Moritz Fürste. Erst der Olympiasieg mit den deutschen Hockeyherren in London, dann wird er auch noch zum Welthockeyspieler des Jahres gewählt. Ein Titel, den Hamburg fast im Abo hat. 2013 folgt Tobias Hauke auf dem Hockeythron. Und auch auf Vereinsebene darf sich Hamburg über zahlreiche Hockeytitel freuen. Herausragend ist das Jahr 2014, als die Herren des Harvestehuder THC deutscher Feldmeister werden und die Europapokale der Landesmeister auf dem Feld und in der Halle gewinnen. Bei den Damen schafft es der Uhlenhorster HC bis 2018 zehnmal in Serie ins Endspiel um die deutsche Feldmeisterschaft.
HSV: Beispiellose Geldverschwendung unter Beiersdorfer
Doch bevor man nun den Eindruck gewinnen kann, dass Hamburgs Sportjahrzehnt doch gar nicht so schlimm ist, reicht ein Scheinwerferschwenk zurück in den Volkspark. 2014 ist das Jahr der Ausgliederung. HSVPlus verspricht blühende HSV-Landschaften, ein „Aufstellen für Europa“ und sprudelnde Investorenquellen. Was in Wahrheit folgt, ist eine beispiellose Geldverschwendung unter Clubchef Dietmar Beiersdorfer und der Niedergang des Traditionsvereins, der im Mai 2018 mit dem erstmaligen Abstieg seinen Tiefpunkt findet.
Eine Erfolgsstory soll dagegen auf der anderen Seite der Elbe geschrieben werden. Mit einer 70.000 Euro teuren Wildcard steigen die 2013 gegründeten Towers in der Saison 2014/2015 in die Zweite Basketball-Bundesliga ProA ein. Fünf Jahre später, am 30. April 2019, gelingt in Chemnitz im letzten von fünf Play-off-Spielen unter Trainer Mike Taylor der Aufstieg in die Bundesliga. Hurra, Hamburg kann doch Erste Liga!
Erste Liga, ja bitte. Aber Olympia, nein danke. Für den Tiefpunkt des Hamburger Sportjahrzehnts sorgen 335.638 Hamburger, die am 29. November 2015 gegen eine Olympiabewerbung der Stadt für die Sommerspiele 2024 und 2028 stimmen. Damit platzt der Traum der Sportstadt Hamburg, eine Sport-Metropole zu werden. Das amtliche Endergebnis: 51,6:48,4 Prozent stimmen gegen die Pläne, die Elbinsel Kleiner Grasbrook zum Zentrum der olympischen Spiele werden zu lassen.
Hamburger lehnen die Olympia-Bewerbung ab
Einer der Hauptgründe für die Ablehnung der Bevölkerung bleibt die unklare Finanzierung der Spiele. Die Bundesregierung hatte verbindliche Zusagen erst angekündigt und später verweigert. Immerhin: Der Hamburger Senat setzt dennoch auf den Sport, beschließt im Frühjahr 2016 den Masterplan Active City, der mehr Bewegungsangebote für alle verspricht, eine bessere sportliche Infrastruktur, mehr Hallen und die Unterstützung von Großereignissen.
Und es gibt tatsächlich auch Olympische Spiele, über die sich Hamburg dann doch freuen kann: Olympia 2016 im weit entfernten Rio de Janeiro. Am 18. August 2016 wird das HSV-Duo Laura Ludwig/Kira Walkenhorst an der Copacabana Olympiasieger. Der Lohn: Die Auszeichnung als Deutschlands Mannschaft des Jahres.
Auch im Boxen gewinnt die Hansestadt in Rio eine Medaille: der Halbweltergewichtler Artem Harutyunyan (29) holt Bronze – und streichelt damit die geschundene Seele der Hamburger Boxfans. Die Insolvenz des Profistalls Universum hatte 2012 für Tränen gesorgt, genauso wie nach neuneinhalb Jahren als Weltmeister im Schwergewicht die Niederlage des Wahl-Hamburgers Wladimir Klitschko im November 2015 gegen den Briten Tyson Fury.
Es wurde auch nicht besser, als Klitschko im April 2017 vor 90.000 Fans in London sein Comeback gegen den Briten Anthony Joshua gibt – und nach technischem K. o. in Runde elf verliert. Bruder Vitali (heute 48) ist bereits 2014 als amtierender WBC-Weltmeister abgetreten und seit Mai 2014 Bürgermeister von Kiew.
Das Aus der Hamburg Freezers
Das Sportjahr 2016 wird allerdings trotz der olympischen Erfolge, trotz Dorothee Vieths Goldmedaille im Handbike-Einzelzeitfahren und trotz Edina Müllers Dreifachtriumph (WM-Gold, EM-Gold, Paralympics-Silber) im Parakanu bei vielen Hamburger Sportfans als schwarzes Sportjahr in Erinnerung bleiben. Schuld haben keine Sportler, sondern ein paar kalifornische Geschäftsmänner.
Denn im Mai 2016 entscheidet die Anschutz Entertainment Group (AEG) als Eigner, die Hamburg Freezers vom Spielbetrieb der Deutschen Eishockey-Liga (DEL) abzumelden. Obwohl umfangreiche Rettungsaktionen durchgeführt, dabei rund 1,2 Millionen Euro gesammelt werden, 560.000 davon per Crowdfunding, lässt sich die AEG nicht umstimmen. Damit ist der Erstligastandort Hamburg, an dem die Freezers erstmals in der Saison 2002/03 aktiv waren, Geschichte.
Eine Erfolgsgeschichte schreiben Hamburgs Judoka. Das Hamburger Judo-Team (HJT) wurde unter Leitung von Cheftrainer Slavko Tekic von 2016 bis 2018 dreimal in Serie deutscher Mannschaftsmeister und holt 2017 Bronze im Europapokal. Und auch auf dem Rasen gibt es endlich eine Erfolgsgeschichte – allerdings nicht auf dem Fußballplatz, sondern auf dem Green. Nach zehn Jahren kommt 2017 hochklassiges Herren-Profigolf in den Großraum Hamburg zurück. In Winsen werden seitdem auf den Green Eagle Golf Courses die Porsche European Open ausgetragen. Ein Turnier der European Tour.
2019 wird der Rothenbaum zur Beachvolleyball-Partymeile
Großereignisse kann Hamburg! Die Weltmeisterschaften im Rollstuhl-Basketball 2018 in der Inselparkhalle in Wilhelmsburg zum Beispiel. Ironman, Marathon, Triathlon oder die Deutschen Derbys im Galopp, Springreiten und Dressur. Und natürlich die Beachvolleyball-Weltmeisterschaft im Juni/Juli 2019 im Tennisstadion am Rothenbaum. Der emotionale Höhepunkt: Julius Thole und Clemens Wickler vom Eimsbütteler TV werden gefeierte Vizeweltmeister.
An gleicher Stätte gibt es wenige Tage zuvor Tränen satt: Nach zehn Jahren als Turnierdirektor am Rothenbaum muss Michael Stich gehen. Der Deutsche Tennis-Bund favorisiert als Lizenzinhaber die Österreicher Sandra und Peter-Michael Reichel. Was Stich wohl nie vergessen wird: Wie 2014 der Stern von Alexander Zverev am Rothenbaum aufgeht, als er als 17-Jähriger das Halbfinale erreichte und dort 0:6, 1:6 am Spanier David Ferrer scheitert. 2018 feiert Zverev (heute 22) mit dem Gewinn der ATP-WM in London dann den bislang größten Erfolg seiner Karriere.
Doch 2019 würde zu Hamburgs Sportjahrzehnt kaum passen, wenn nicht auch in diesem Jahr das Tragische die Triumphe in den Schatten stellt. Im Volleyball zum Beispiel: Die Frauen des Volleyball-Team Hamburg steigen im Frühjahr aus der Zweiten Liga ab, nachdem es über viele Jahre in der Bundesliga trotz großzügiger Alimentierung durch die Kupferhütte Aurubis keine Erfolge hatte verbuchen können. Damit ist der Frauen-Volleyball in Hamburg drittklassig.
Fußball ist und bleibt nach einem Jahrzehnt voller Pleiten und Peinlichkeiten in Hamburg zweitklassig, nachdem der HSV den noch im Winter 2018/19 sicher geglaubten Aufstieg verspielt. Doch was bleibt beim HSV zwischen Europa-League-Halbfinal-Niederlage in Fulham und dem zweiten Jahr in der Zweiten Liga? 17 Trainer, acht Sportchefs, fünf Clubchefs und null Erfolg. Bernd Hoffmann, der zum Anfang des Jahrzehnts entlassen wurde und der zum Ende des Jahrzehnts das HSV-Ruder wieder rumreißen soll, ist sich sicher: „Die 2020er-Jahre werden besser werden.“
Auch für den Hamburger Sport gilt: Auf Regen folgt Sonnenschein. Oder wie man es in der Hansestadt sagt: Nirgendwo strahlt der Himmel so schön grau wie in Hamburg.