London. Schweizer ist vor Giganten-Duell um Beiläufigkeit bemüht. Doch das Halbfinale weckt Erinnerungen an eines der größten Spiele überhaupt.
Das Talent, besondere Dinge gewöhnlich aussehen zu lassen, hat Roger Federer zum größten Tennisspieler der Geschichte gemacht. Dass sich der Schweizer Grand-Slam-Rekordsieger auch abseits des Courts auf dieses Kunststück versteht, bewies er am Mittwochabend wieder einmal. Der 37-Jährige, der bei den All England Championships in Wimbledon seinen 21. Major-Titel holen könnte, saß im großen Presseraum und parlierte wie gewohnt mehrsprachig über seinen Viertelfinalsieg gegen den Japaner Kei Nishikori, als die Sprache auf seinen Halbfinalgegner kam.
Aus dem Augenwinkel nahm Federer während seiner Antwort wahr, wie just in jenem Moment Rafael Nadals verwandelter Matchball gegen den US-Amerikaner Sam Querrey über einen an der Wand hängenden Monitor flimmerte. „Oh, es ist Nadal“, sagte Federer beiläufig, so als wäre ihm gerade eingefallen, dass ihn seine Frau Mirka gebeten hatte, aus dem Supermarkt noch ein Paket Butter mitzubringen. Und so blieb, während auf der ganzen Welt Tennisfans vor Begeisterung und Vorfreude das Gigantenduell an diesem Freitag kaum abwarten können, der Weltranglistendritte vollkommen entspannt.
Das letzte direkte Wimbledon-Duell ist legendär
Federer gegen Nadal! Ein Zweikampf, der seit 2005 das Welttennis prägt, seit der 33 Jahre alte Spanier sein Königreich auf Sand begründete, indem er den ersten seiner mittlerweile zwölf French-Open-Titel gewann. 39-mal haben die beiden Ausnahmeathleten sich seit ihrem Premierenduell 2004 beim Masters in Miami (Nadal siegte 6:3, 6:3) gegenübergestanden, 24 Matches gewann der Mallorquiner, zuletzt vor fünf Wochen bei den French Open mit 6:3, 6:4, 6:2. Auf Rasen jedoch gab es diese Paarung nicht mehr, seit die so gegensätzlichen Kontrahenten 2008 in Wimbledon ihr episches Finale bestritten. Ein Finale, das viele, die es sahen, als das großartigste bewerten, das es an der Church Road jemals gab.
Mehr als viereinhalb Stunden, die sich wegen Regenunterbrechungen auf dem erst 2009 überdachten Center-Court auf mehr als sieben Stunden ausdehnten, hatten sich die Rivalen auf höchstem Niveau neutralisiert. Dann verlor Federer beim Stand von 7:7 im fünften Satz seinen Aufschlag und öffnete Nadal die Tür zu seinem Palast. Fünfmal in Folge hatte der Schweizer zuvor in Wimbledon triumphiert, nun war es im mit 4:48 Stunden längsten Wimbledon-Finale der Geschichte Nadal, der seinen ersten Grand-Slam-Titel außerhalb von Paris feiern und seinen Status als auf allen Belägen kompletter Spieler begründen konnte. Zum zehnjährigen Jubiläum strahlte die BBC im vergangenen Jahr eine Dokumentation unter dem Titel „Strokes of Genius“ aus, die alle Facetten des Jahrhundertspiels beleuchtete.
Die großen Drei holten 38 von 46 Grand-Slams
Elf Jahre später wollen weder Federer noch Nadal umfangreich auf die Vergangenheit eingehen. „Natürlich war das ein sehr besonderes Spiel, für mich emotional eins meiner intensivsten. Aber wir haben so viele tolle Matches gegeneinander gespielt, dass ich ungern welche hervorhebe“, sagte Nadal. Federer gab zu, „dass ich vergeblich versucht habe, dieses Match zu vergessen. Es geht aber nicht darum, was damals war, sondern darum, wie wir in der Gegenwart spielen.“
Zur Einordnung dessen, wie sich die beiden Branchenriesen, die mit gemeinsam 38 Grand-Slam-Titeln die Rekordliste anführen, über die vergangenen elf Jahre entwickelt haben, gehört ein weiterer Name. Der Serbe Novak Djokovic (32), Nummer eins der Weltrangliste und in Wimbledon als Titelverteidiger im ersten Halbfinale am Freitag (14 Uhr MEZ) gegen den Spanier Roberto Bautista Agut (31/Nr. 22) gefordert, gewann seinen ersten von 15 Major-Titeln just in jenem Jahr 2008 bei den Australian Open. Seitdem wehren die großen Drei die Angriffe nachfolgender Generationen ab, haben von 46 seit Anfang 2008 vergebenen Grand-Slam-Pokalen 38 in ihren Händen gehalten.
McEnroe sieht Federer leicht vorne
„Ohne diese Rivalität mit Rafa und Novak würde ich vielleicht gar nicht mehr Tennis spielen“, gab Federer in dieser Woche zu Protokoll. Auffällig ist, dass Nadal und er längst freundschaftlich verbunden sind, während Djokovic, der auch vom Londoner Publikum zwar respektiert, aber nicht geliebt wird, als Eigenbrötler eine Art dritten Reifen am Fahrrad darstellt. Ob eine Niederlage am Freitag ihr Verhältnis verändern würde, wurde Nadal am Mittwochabend gefragt. „Natürlich nicht, wir bleiben Freunde“, sagte er.
John McEnroe, der US-Altmeister, der als Experte für die BBC arbeitet, hält den achtmaligen Wimbledon-Sieger aus der Schweiz für den leichten Favoriten an diesem Freitag. „Er ist etwas konstanter und kann sein Spiel auf Rasen am besten zur Geltung bringen“, sagte der 60-Jährige. Tatsächlich ist das Level, auf dem Federer, Nadal und auch Djokovic bislang durch das Turnier schwebten, identisch hoch. Selbst in kurzen Schwächephasen bleiben sie mit ihrer Erfahrung gelassen, ihre körperliche Fitness ist atemberaubend, mental sind sie allen anderen enteilt.
Nadal hat mehr verbessert als Federer
Federer, der Meister der geräuschlosen Perfektion, hat sein geradliniges Spiel über die Jahre zu einem berauschenden Gesamtkunstwerk entwickelt, ohne dabei einzelne Zutaten signifikant zu verbessern. Nadal dagegen schlägt im Vergleich zu 2008 deutlich stärker auf, er hat an seinem Volleyspiel gearbeitet und auch an seiner Rückhand. „Ich kann nicht mehr alles über meine Athletik lösen, deshalb musste ich Anpassungen vornehmen und neue Qualitäten hinzufügen, um nicht an Niveau zu verlieren“, sagte er.
Es wird, so viel ist klar, nicht einfach werden für Roger Federer und Rafael Nadal, an das Niveau ihres letzten Wimbledon-Rendezvous anzuknüpfen. Aber dass man es ihnen elf Jahre später überhaupt zutraut, ist das schönste Zeichen für ihre Größe.