London. Die US-Amerikanerin steht in London vor einem Rekord. Ihre Leistungsexplosion kommt überraschend – wohl auch für sie selbst.
Im September feiert Alexis Olympia ihren zweiten Geburtstag. Aber der Tag wird kommen, an dem ihre Mutter ihr erklären muss, dass Gewalt keine Lösung für kritische Lebenslagen ist. Natürlich sollte das Mädchen folgsam sein, aber als Munition für einen kontroversen Diskurs sollte sie sich Aufzeichnungen der Tennismatches ihrer Mutter zurechtlegen. Aufnahmen, die beweisen, dass Serena Williams in ihrer glanzvollen Karriere ohne Gewalt nicht zu der Spielerin geworden wäre, die sie auch bei den All England Championships in Wimbledon wieder ist.
Als die 37 Jahre alte US-Amerikanerin in London landete vor rund zwei Wochen, da tat sie dies mit dem Gefühl, das eigene Leistungsvermögen nicht einschätzen zu können. Zu oft war sie in dieser Saison verletzt gewesen oder hatte wegen Krankheiten nicht ihrem Beruf nachgehen können. Nur zwölf Matches hatte sie vor dem dritten Grand-Slam-Turnier des Jahres absolviert. Doch spätestens nach dem 6:4, 4:6, 6:3-Erfolg am Dienstagnachmittag im Viertelfinale gegen ihre Landsfrau Alison Riske (29/Nr. 55) waren alle Zweifel ausradiert. „Auch wenn ich nicht beziffern kann, bei wieviel Prozent ich jetzt bin: Ich fühle mich endlich wieder so gut, dass ich mein Tennis spielen kann“, sagte sie.
Wann Serena Williams zupackt
Und dieses Tennis lebt von der brachialen Gewalt ihrer Grundschläge und ihres Aufschlags. 19 Asse prügelte sie Riske ins Feld, bevorzugt dann, wenn es nötig war. Dass man Serena Williams nur bezwingen kann, wenn man sie mit viel Tempo und Treibschlägen in die tiefen Winkel des Platzes in Bewegung bringt, ist kein Geheimnis. Riske war in diesem Turnier nicht die Erste, die das versuchte, auch Julia Görges (30/Bad Oldesloe) hatte in der dritten Runde diesen Plan.
Doch am Ende kam es, wie es so oft kommt: Immer wenn die siebenmalige Wimbledon-Siegerin, die am Sonnabend mit ihrem 24. Major-Triumph den Grand-Slam-Rekord der Australierin Margaret Court egalisieren will, aus dem festen Stand agieren kann, ist sie nicht zu bezwingen. Dann schlagen die Bälle so krachend ein im Feld der Konkurrentin, wie es regelmäßig auch die Aussagen tun, für die Serena Williams berüchtigt ist.
Wie viel von Serena Williams ist Show?
Als Vorkämpferin für die Rechte von Frauen, Farbigen oder Homosexuellen hat sich die auf mehr als 400 Millionen US-Dollar Privatvermögen geschätzte Athletin ein scharfes Profil erarbeitet. Dafür wird sie weltweit geschätzt, ihre Pressekonferenzen geraten bisweilen zu Audienzen, in denen Fragen zu unterwürfigen Respektsbekundungen verkümmern.
In diesen Tagen jedoch wirkte die Lichtgestalt nicht dominant wie früher, sondern müde, ausgelaugt, derangiert sogar – wie vor Turnierstart, als sie vorgab, mehr als eine Woche lang nicht mitbekommen zu haben, dass die Australierin Ashleigh Barty die Spitzenposition in der Weltrangliste erklommen hatte.
Wieviel davon Show ist und wieviel Realität, das ist schwer auszumachen – bei Serena Williams sind diese Grenzen fließend. Sicher ist, dass die Anstrengungen, wieder in Topform zu kommen, immens sind in ihrem Alter. „Ich muss jedes Match so nutzen, als wären es fünf Matches“, sagte sie nach dem Sieg über Riske. Spielpraxis sei unerlässlich, auch deshalb habe sie sich dazu entschieden, mit dem britischen Volkshelden Andy Murray (32), der sich nach seiner Hüftoperation wieder in seine Sportlerkarriere zurücktastet, im Mixed anzutreten.
Serena Williams suchte Psychologen auf
Es scheint aber auch, als wolle Serena Williams versuchen, nach den außer-sportlichen Schlagzeilen vergangener Grand-Slam-Turniere neuerliche Ausfälle zu vermeiden. Im Finale der US Open 2018 hatte sie mit einem Wutausbruch gegen den Stuhlschiedsrichter der Japanerin Naomi Osaka deren ersten Major-Sieg vermiest und sich nicht nur rund 14.500 Euro Strafe, sondern auch den Unmut vieler Fans und Experten aufgeladen.
Im US-Magazin „Harper’s Bazaar“ erklärte sie jetzt, sich deshalb in psychologische Behandlung begeben zu haben. Bei den French Open Ende Mai war es zum nächsten Vorfall gekommen, weil Österreichs Topspieler Dominic Thiem den großen Presseraum hatte verlassen müssen, um Platz für Williams zu machen, die ihre Fragerunde schnell durchziehen wollte.
Williams zerstörte Platz mit Schlägerwurf
In Wimbledon nun wurde sie zu 8000 Pfund Strafzahlung verdonnert, nachdem sie mit einem Schlägerwurf einen Trainingsplatz zerstört hatte. Fragen dazu versuchte sie betont zurückhaltend zu beantworten. „Ich weiß auch nicht, was genau ich falsch gemacht habe. Wahrscheinlich habe ich einfach Superkräfte“, sagte sie. Nun, die hat sie zweifelsohne.
Dass die Tschechin Barbora Strycova (33/Nr. 54), gegen die sie eine 3:0-Bilanz aufweist, an diesem Donnerstag im Halbfinale eine unüberwindbare Hürde für die Weltranglistenzehnte darstellen kann, darf stark bezweifelt werden. Die Finalaufgabe gegen die Rumänin Simona Halep (27/Nr. 7) oder WTA-Weltmeisterin Jelina Switolina (24/Nr. 8) aus der Ukraine wäre deutlich härter.
Ihr letztes Grand-Slam-Turnier hat Serena Williams 2017 bei den Australian Open gewonnen, sieben Monate vor der Geburt ihrer Tochter. Nach ihrem Sieg über Alison Riske sagte sie: „Je älter ich wurde, desto größer habe ich den Druck empfunden, erfolgreich sein zu müssen. Aber nun, da ich alt bin, ist der Druck nicht mehr so groß. Ich habe das Gefühl, dass ich alles geschafft habe in meiner Karriere.“ Wer sie sieht in Wimbledon, der kann das nicht glauben. Titel Nummer 24, Margaret Courts Rekord, das ist das, was sie antreibt. Und Serena Williams ist verdammt nah dran, das zu schaffen.