London. Die Kielerin wurde in der zweiten Runde vorgeführt und rutscht nun aus den Top Ten der Weltrangliste. Wie konnte das passieren?
Am Tag nach ihrer verheerenden Zweitrundenniederlage in Wimbledon war die entthronte Titelverteidigerin Angelique Kerber wie angekündigt abgetaucht. Auch Cheftrainer Rainer Schüttler (43) war für Nachfragen nicht zu erreichen, Manager Aljoscha Thron (32) erklärte, man werde zunächst interne Gespräche führen. Dass die 6:2, 2:6, 1:6-Klatsche gegen die an Position 95 der Weltrangliste geführte US-Amerikanerin Lauren Davis (25) nachwirken wird, ist unbestritten. In der Weltrangliste wird die 31 Jahre alte Kielerin von Position fünf aus den Top Ten rutschen. Barbara Rittner (46), beim Deutschen Tennis-Bund als Head of Women’s Tennis für die Damen zuständig, wundert sich ebenfalls über den rätselhaften Auftritt ihrer Topspielerin.
Hamburger Abendblatt: Frau Rittner, wie ist es möglich, dass eine Spitzenspielerin wie Angelique Kerber sich von einer angeschlagenen, zu Jahresbeginn aus den Top 250 der Welt gerutschten Gegnerin so vorführen lässt?
Barbara Rittner: Diese Frage habe ich mir auch gestellt. Angie ist eine Spielerin, die sich wohlfühlen muss, um Topleistung zu bringen. Aber genau das hat sie vor dem Match ausgestrahlt. Die Turniere vor Wimbledon waren stark, ihre Form war deutlich ansteigend. Und sie selbst hat gesagt, wie positiv sie die Rückkehr nach Wimbledon empfunden hat. Deshalb hat mich der Auftritt auch gewundert.
Kerber sagte, sie habe sich von Anfang an nicht wohl gefühlt, habe keine Energie gehabt. Aber wenn sie für eins bekannt ist, dann für ihren Kampfgeist. Warum war der nicht vorhanden?
Rittner: Mein Eindruck war auch, dass sie überhaupt keine positive Energie hatte. Sie hat ausgestrahlt, dass sie sich nicht gut fühlt und sich nicht gegen die Niederlage stemmen kann. Das hat ihre Gegnerin Mitte des zweiten Satzes gespürt und ausgenutzt. Tatsächlich fand ich auch, dass Angie sich zu spät zu pushen und ins Match reinzubeißen versucht hat.
Wie erklären Sie sich das?
Rittner: Es könnte sein, dass sie eingeholt worden ist von dem Druck, in Wimbledon überzeugen zu müssen. Es gibt in jedem Grand-Slam-Turnier solche Matches, sie hatte das im vergangenen Jahr gegen die US-Qualifikantin Claire Liu auch. Dennoch habe ich bis zum Doppelbreak im dritten Satz geglaubt, dass sie es auch diesmal umbiegen könnte. Jeder weiß, wie es ist, einen schwarzen Tag zu haben. Sich daraus herauszuretten ist schwierig, nicht immer gelingt es.
Dass Kerber nach so einem Spiel allerdings sagt, sie habe alles gegeben, wirkt angesichts der Leistung dann doch etwas lächerlich. Und bei 50 unerzwungenen Fehlern, die Davis in ihrer Bilanz hatte, kann man auch nicht behaupten, dass die Gegnerin alles getroffen hat.
Rittner: Aber das darf man ihr nicht verübeln. Nach so einem Match verdrängt man, dass man selbst dazu beigetragen hat, dass die Gegnerin sich so entfalten konnte. In ihrer Wahrnehmung wird es genauso gewesen sein.
Der Aufschlag war fürchterlich, und 31 unerzwungene Fehler sind für Kerber ein ausnehmend hoher Wert.
Rittner: Das stimmt beides. Der Aufschlag war nicht da, obwohl er bei den Turnieren auf Mallorca und in Eastbourne eine Waffe war. Und 31 Fehler sind angesichts der Tatsache, dass sie nicht offensiv agiert hat, viel zu viel.
Im dritten Satz gab es diese Szene, in der Kerber in ihre Box geschimpft und zweimal massiv abgewunken hat. Nur überbordende Emotionen oder doch ein tieferes Problem zwischen ihr und Cheftrainer Rainer Schüttler?
Rittner: Da würde ich nicht zu viel hineininterpretieren. Angie hat schon häufiger aus der Emotion heraus mit ihrer Box diskutiert. Meist tut ihr das schon in dem Moment leid. Aber so etwas passiert und gehört dazu. Die werden das intern besprechen.
Das heißt, Sie halten Schüttler weiter für den richtigen Coach?
Rittner: Ich finde nach wie vor, dass die beiden gut harmonieren. Ich halte grundsätzlich viel von Rainer, und ich weiß, dass sie sich gut verstehen, dass er auch Klartext mit ihr reden kann. Die Niederlage hat nichts mit dem Trainer zu tun, die muss Angie auf ihre eigene Kappe nehmen. Wenn Rainer das Gefühl hätte, sie nicht mehr erreichen zu können, würde er seine Konsequenzen ziehen. Und Angie ist keine, die schnell den Trainer wechselt, sie braucht Vertrauen, das wachsen muss. Die beiden werden gemeinsam entscheiden, wie es weitergeht.
Was würden Sie denn raten?
Rittner: Dass Angie in Ruhe ein paar Tage abschaltet und sich hineinhorcht, was ihr nun gut tut, um ihr Energielevel wieder auf Höchststand zu bekommen. Wegen der Verletzungen und Krankheiten im ersten Halbjahr hat sie vielleicht ein kleines Fitnessdefizit, das aufzuarbeiten wäre. Mentale und körperliche Frische sind wichtig, um gestärkt in die US-Hartplatzsaison zu gehen.